Eines Nachts im Jahr 1992 klingelt bei Elena Bregman in Minsk das Telefon. Es ist einer ihrer ehemaligen Studenten, ein inzwischen in Berlin lebender Cellist. „Komm nach Berlin“, lädt er sie ein, „und spiel mit mir.“ Ihre Entscheidung fällt spontan: „Ich komme.“ Ihre achtjährige Tochter Anna an der Hand und nur die wichtigsten Dokumente und Noten im Gepäck, setzt sie sich in den Zug, der sie in ein neues Leben bringen wird. Zurück lässt sie ein nach außen „normal“ wirkendes Leben: Ehemann, Wohnung und Job an der Hochschule für Musik in Minsk. Ihre innere Unzufriedenheit über die gedrückte Stimmung im Land lässt sie ebenfalls hinter sich. Vor ihr und ihrer Tochter soll ein Neuanfang liegen.

Text: Silke Schuster

Eine Zugfahrt verändert zwei LebenÜber Anna Margolinas Leben und Musik

Glück, Freiheit und Menschlichkeit

Nach ihrer Ankunft kommen Elena und Anna zunächst in der Zwei-Zimmer-Wohnung des befreundeten Studenten und dessen Freundin unter. Ohne materiellen Besitz, ohne Sprachkenntnisse, ohne Geld, ohne festen Wohnsitz, ohne Kohle zum Heizen und ohne Visum ziehen sie in einer Stadt, von der sie zuvor nur den Namen kennen, von einer Künstlerwohnung in die nächste: „Wir wurden immer im Doppelpack durch ganz Prenzlauer Berg gereicht, haben mal hier und mal da übernachtet.“ Die Zeit mit dem dreimonatigen Touristenvisum ohne Aufenthaltserlaubnis gehört für Elena und Anna dennoch zur glücklichsten. Nichts aus der Vergangenheit findet hier Platz. „Ich hatte so ein Gefühl“, sagt Elena, „dass nichts aus dem alten Leben hierhergehört. Außer ein paar Dokumenten hatten wir nichts, und das war pure Freiheit.“ Nur ihr Instrument holt Elena später nach: ein Zimmermann-Flügel aus Leipzig, auf dessen Deckel „Charlottenburg“ steht. Wenn Anna die erste Zeit in Berlin und die späteren Jahre reflektiert, wird ihr bewusst: „Komischerweise hatte ich meine schwierigste Zeit im Leben, als wir dann endlich eine Wohnung hatten. Als Geld da war. Ich bin zur Schule gegangen und fand mich plötzlich in so einem sozialen Zwang wieder. Das waren ganz, ganz düstere Jahre für mich, weil ich plötzlich gezwungen war, mich irgendwo einzuleben, wo ich überhaupt nicht angenommen wurde. Die Mitschüler wollten mich nicht in ihre Cliquen aufnehmen, weil ich ganz anders war als sie und die Sprache nicht gesprochen habe.“

Die anfängliche Extremsituation zeigt den beiden gleichzeitig, was Menschlichkeit bedeutet. „Es gab auch viele Leute, die uns geholfen haben, ohne Fragen zu stellen“, blickt Anna zurück, „und ohne selbst was zu haben. Das hat mein ganzes Leben geprägt. Ich trage seitdem einfach ein Grundgefühl von Menschlichkeit in mir, das ich niemals vergessen werde. Wenn jetzt etwas schiefläuft, jemand unfair ist oder mir irgendwas wegnimmt, dann habe ich dieses Gefühl trotzdem als Basis in mir.“ An ihrem ersten Tag in Berlin begegnet Elena einem Künstler aus St. Petersburg, der ihnen ebenfalls Unterschlupf gewährt. Als Erstes zeigt er ihr einen Laden, wo es die Einkaufskörbe aus Metall gibt – wie sie sie aus Minsk kennt. „Das war tatsächlich ein Zugang für mich“, erinnert sich die Pianistin. „Meine Sinne haben viel erkannt. So war es ein sanfter Übergang, auch wenn die Stimmung hier völlig anders war.“

Die persönliche Geschichte prägt die eigene Musik

Die emotional bewegende Geschichte von Anna und ihrer Mutter Elena beeinflusst ihre Musik. Elena ist Konzertpianistin und unterrichtet an der Barenboim-Said-Akademie. Anna folgt zunächst ihrem inneren Impuls, eine Pause mit der Musik einzulegen, um neu anzufangen. Die Kinder in Berlin, vor allem in Prenzlauer Berg, haben in den 90ern so viele Freiheiten. Von der Struktur und dem Druck, den Anna in Minsk erlebt hat, ist hier nichts zu spüren. „Warum soll ich mich so unter Druck setzen?“, fragt sie sich. Sie entscheidet sich später für ein Studium der russischen und deutschen Literaturwissenschaft. Über die russische Sprache möchte sie den Kontakt zu ihren kulturellen Wurzeln behalten und gleichzeitig in der deutschen Sprache ihre neue Identität finden. Vor allem aber möchte sie einen Cut in ihre Vergangenheit am Klavier bringen, die sie mit ihrem alten Leben in Weißrussland verbindet: Druck, Strenge, Stress. Aus einer Generation von Pianistinnen stammend wäre es selbstverständlich gewesen, die gleiche Laufbahn einzuschlagen. „Diese Entscheidung war auch mit sehr viel Angst verbunden“, gibt die Musikerin zu, „aber es war ein neues, unbelastetes Feld.“ Sie widmet sich verstärkt dem Übersetzen und Schreiben. „Wenn du in ein neues Land kommst und diese Struktur nicht hast, verleitet dich das, überhaupt erst darüber nachzudenken: Wer bin ich eigentlich?“, erzählt Anna. Ihr Weg der Selbstfindung nimmt mehrere Jahre in Anspruch.

Über Umwege findet sie schließlich einen neuen Zugang zur Musik, genauer: zum Jazz. Zum Gesang kommt sie zunächst aus Protest: „Ich wollte alles Alte weghaben. Ich habe alles abgelehnt, was damit zu tun hat. Ich habe quasi kein Gepäck mitgebracht – weder emotional noch sonst irgendwie. Deswegen habe ich das einfach zerschossen.“ 2015 gründet Anna ihr eigenes Ensemble. Ihre Band interpretiert und improvisiert Songs unterschiedlicher Genres und Kulturen und lässt sie im Jazzstil neu erklingen.

Im Frühjahr erscheint das neue Album One Endless Night beim Label Contemplate. Darin verarbeitet die Jazzmusikerin dieses prägende erste Jahr nach der Ankunft in Berlin: „Es war mir total wichtig, diese Geschichte zu verarbeiten. Sie war noch so offen und hat mich beschäftigt. Dadurch, dass sie jetzt in Musik verwandelt ist, konnte ich ein bisschen damit abschließen. Und von diesem ersten Jahr aus sind viele, viele Sachen ins Heute gelaufen.“ Anna nimmt das Album gemeinsam mit ihrer Band auf und hat dafür eine Förderung bekommen. „So ein großes Projekt bekommt man nicht allein gestemmt“, stellt sie klar. Ihre Geschichte puzzelt sie über Wochen aus ihrer Erinnerung zusammen und nimmt dadurch eine Art Außenperspektive ein. „Ich glaube, ich habe unsere Geschichte zum ersten Mal wirklich jemandem erzählt. Für uns war das so selbstverständlich, weil es unser Leben ist. Es war auch gar nicht so besonders für mich, ehrlich gesagt, ich habe keine Heldentat begangen. Ich habe einfach einen Schritt vor den anderen gesetzt. Aber als ich das alles erzählt habe, war es schon sehr bewegend. Es ist kein Drama, und trotzdem war es sehr emotional, im Prinzip ein Kulturenclash. Die Familie, aus der ich komme und das, wo wir ankamen, hätte unterschiedlicher nicht sein können.“

Neben zeitgenössischem Jazz hat Anna eine Swing-Tanz-Reihe ins Leben gerufen, die sie seit 2020 regelmäßig in der WABE spielt und darin ihr Publikum auch ausdrücklich zum Tanzen auffordert. „Mit der Swing-Musik, die ich so liebe, kommt auch ein ästhetischer Genuss“, schwärmt Anna, „wir können uns alle schick anziehen und uns eine Auszeit nehmen vom oft problematischen Alltag.“ Bei Sing me a swing song and let me dance bietet eine lokale Partnertanzschule mitten im Konzert auch einen Swing-Crashkurs für Einsteiger an.

Das neue Leben prägt die Mutter-Tochter-Beziehung

„Ich kann mir das alles gar nicht mehr anders vorstellen“, blickt Elena auf ihre Auswanderung zurück, „ich möchte mir nicht vorstellen, was es für unsere Beziehung bedeutet hätte, wären wir dortgeblieben.“ Das gemeinsame Mutter-Tochter-Erlebnis schweißt die beiden zusammen. Sie haben ein vertrautes Verhältnis zueinander, geben sich gegenseitig Ratschläge und inspirieren sich auf künstlerischer Ebene. „Wir sind gleichberechtigte Künstlerinnen. Wir sind auf einer Welle. Wir können uns alles sagen, und es tut nicht weh, weil keine Verletzung geplant ist“, bringt Anna die besondere Bindung auf den Punkt. Dadurch, dass sie die Geschichte voneinander so gut kennen, weil sie sie gemeinsam erlebt haben, gelingt es ihnen noch besser, sich gegenseitig zu unterstützen. Trotzdem lässt dieses Vertrauensverhältnis jeder auch Raum für Eigenes: „Wir halten Abstand. Genauso groß wie unsere Nähe ist, ist unser Abstand. Das ist unsere goldene Mitte.“ Elena und Anna kommunizieren in ihrer Muttersprache, was ebenfalls auf das enge Verhältnis einzahlt. „Im Grunde hängt alles mit diesem Umzug zusammen. Für mich ist die Frage unvorstellbar“, möchte Elena den Gedanken kaum zu Ende denken, „was wäre, wenn ich damals anders entschieden hätte?“ So haben Mutter und Tochter heute eine vertraute Beziehung, die über das musikalische Band hinausgeht. Dass man die Frauen nicht zusammen auf der Bühne sieht, hat rein praktische Gründe. „Aber wenn wir einen Anlass hätten, die Welt des Jazz und der Klassik zusammenzubringen, würde ich das sofort machen“, stellt Elena klar. Anna pflichtet ihr bei: „Es ist für mich eine Herausforderung. Aber irgendwann wird es passieren.“

Annas Herz brennt „fürs Spielen und für Emotionen“. Sie ist gemacht für das Leben auf der Bühne. Ihr Antreiber ist der Kontakt mit dem Publikum und den Kolleginnen und Kollegen. Der Bildungsgedanke nimmt in ihren Projektplanungen eine immer größere Rolle ein: „Ich möchte Projekte anstoßen, wo Nachwuchsmusikerinnen und -musiker auf ihre Karriere vorbereitet werden. Verschiedene Locations, Werbung, Konzepte – ich möchte künstlerische Ideen verpacken und vermarkten helfen, um sie für den Nachwuchs attraktiv zu machen und um die Erfahrung weiterzugeben.“ Damit möchte sie einen ähnlichen Weg einschlagen wie ihre Mutter, die ihr Wissen an der Akademie und in privaten Stunden weitergibt.

Das Leben in Berlin hat Elena verändert. Vieles erlebt sie als anders, vieles auch als ähnlich. Russisch und Deutsch sind ganz unterschiedliche Sprachen. Der gefühlte Abstand und die gefühlte Nähe zwischen den Dingen beeinflussen und verwandeln alle Bereiche ihres Lebens. Trotz der vielen Gegensätze schätzt Elena die Mischung in allen Bereichen. „Nach meiner Veränderung in all den Jahren kann ich heute sagen: Ich habe diese goldene Mitte in mir gefunden.“

Infobox

Anna Margolina

Erscheinungsdatum des Albums One Endless Night: Frühjahr 2023

Das Programm Sing me a swing song and let me dance findet regelmäßig statt. Die Termine findet ihr auf der Website WABE: https://www.wabe-berlin.info

www.margolinamusic.com/

Elena Bregman

www.elenabregman.de