Gesellschaft

Sören Benn: „Die Corona-Pandemie wird die Berliner Kieze verändern“

Sören Benn, Bezirksbürgermeister von Pankow, hat klare Standpunkte, was den Umgang mit der Corona-Krise angeht. Die gesamte Verwaltungsstruktur musste aufgebrochen und umgestellt werden. Bezirke handeln oft im Alleingang, obwohl eine gemeinschaftliche Strategie zielführender sein könnte. Wir sprachen mit Sören Benn über die Herausforderungen in der Verwaltung, über Maßnahmen und Veränderungen, Hoffnungen und Sorgen.

Sören Benn ist verantwortlich für die Verwaltung im „Corona-Modus“ und dieser Modus hat es durchaus in sich, denn im Grunde muss innerhalb kürzester Zeit ein neues Amt aus dem Boden gestampft werden. Die Hygienemedizin gibt es zwar, aber für Fälle wie Corona ist sie gar nicht ausgelegt, also gilt es „aus einer Mücke einen Elefanten zu machen“, wie uns Sören Benn verrät. Zurzeit sind dort mehr als 100 Leute tätig, für die es aber keine zusätzlichen Räume gibt. Das Amt wird aus anderen Ämtern des Bezirksamtes bestückt, bei denen dann wiederum die Leute fehlen. Hinzu kommen Externe wie Medizinstudenten, Honorarkräfte oder die Bundeswehr, die immer nur drei Wochen bleibt. Das Amt und die heterogene Zusammensetzung erfordern eine ständige Nachschulung.

Zusätzlich braucht es die sogenannten Abstrichteams, die mit Autos durch die Gegend fahren und Abstriche nehmen. Nicht zu vergessen die Corona-Hotline, die es vorher ebenfalls nicht gab. Alles in allem bedeutet das: „Im Grunde muss zusätzlich zu den Verwaltungsstellen eine neue Infrastruktur aufgebaut werden, die es vorher nicht gab.“ Bereits Ende Januar fingen die Vorbereitungen langsam an. „Da war noch nicht ganz abzusehen, welche Ausmaße das Ganze nimmt. Aber wir haben sehr früh reagiert. Das ist jetzt kein Alleinstellungsmerkmal für Pankow, das gilt generell für die Verwaltung“, erzählt Sören Benn aus der Anfangszeit der Pandemie.

Die Gesundheitsämter hätten früh reagiert. Trotz des frühen Beginns hat alles eine Weile gedauert. Denn zusätzlich zu der neuen Infrastruktur galt es, einen Umgang mit der Frage zu finden: Wie schützen wir eigentlich das eigene Personal? Wie sind Abstände einzuhalten? Was bedeutet wirksamer Schutz? Erinnern wir uns nur an die anfänglichen Diskussionen über das Für und Wider der Masken: Schaden sie mehr als dass sie nützen?

Im ersten Lockdown wurden große Teile der Verwaltung nach Hause geschickt: Wer konnte, sollte von zu Hause arbeiten; wer nicht, sollte trotzdem zu Hause bleiben. Manche Einrichtungen wurden vollständig geschlossen. Teile der Verwaltung, die zur Risikogruppe gehören, erhielten Präsenzverbot. „Das hat in der ersten Phase erst einmal dazu geführt, dass weite Teile der Verwaltung gar nicht mehr arbeitsfähig waren. Es war richtig, dass damals so zu machen, einfach weil niemand wusste, wie viral das Virus gehen und welche Verheerungen es anrichten würde“, so Sören Benn.

Das Problem erschloss sich erst so richtig als die Kurve abflaute, denn wie uns Sören Benn verriet, sei die Verwaltung nicht wieder so arbeitsfähig geworden, wie sie es davor gewesen wäre. Während für Teile der Bevölkerung die Pandemie über die Sommermonate weitgehend vorbei war, ging es für die Verwaltung weiter: „Wir haben die Kontaktpersonen-Nachverfolgung im gleichen Umfang weitergemacht. Wir haben weiterhin Teile der anderen Verwaltungen abgezogen und zur Kontaktpersonen-Nachverfolgung eingesetzt. Wir hatten genauso wie in der Normalbevölkerung Leute, die in Quarantäne mussten, oder Leute, die Angehörige hatten, die in Quarantäne mussten.“

Zusammenfassend bedeutet das, dass die Arbeitsfähigkeit auch in der Zwischenzeit eingeschränkt blieb – und jetzt, in der zweiten Welle, umso mehr eingeschränkt ist. Denn in vielen Servicebereichen können Kundinnen und Kunden nicht mehr spontan kommen, sondern nur noch mit Termin vorsprechen. Die ganze Situation habe laut Sören Benn natürlich die Debatte aus der Vergangenheit um die Servicequalität in den Bürgerämtern weiter angeheizt: „Da hatten wir uns schon ein Stück weit nach vorne gerobbt, waren schon besser geworden und sind jetzt wieder stark zurückgefallen. Es haben sich wieder große Bearbeitungsrückstände aufgebaut, bei den Sterbeurkunden, bei den standesamtlichen Namensänderungen, bei den Anmeldungen zur Eheschließung usw.“, klingt etwas Frustration durch.

Er ist der Meinung, dass die Ämter sogar hinter den schlechten Zustand von damals zurückfielen. Sören Benn identifiziert dabei ein essenzielles Problem der Verwaltung: „Die öffentliche Verwaltung ist mobil und digital nicht wirklich in der Lage, ins Homeoffice zu gehen. Ganz viel muss tatsächlich noch vom Büro aus gemacht werden. Und wenn das nicht gemacht werden kann, dann wird es eben nicht getan und bleibt liegen“, zieht er nüchtern Bilanz.

Klar würde aufgeholt. Und im Back-Office- Bereich gebe es zusätzliche Leute, die bei der Aufholung der Bearbeitungsrückstände unterstützen. Das Verwaltungskarussell scheint sich munter zu drehen: „Es sind auch Leute aus der Parkraumbewirtschaftung abgezogen worden, um den allgemeinen Ordnungsdienst zu unterstützen, der dann wiederum die Corona-Kontrollen machen kann.“ Eine weitere Herausforderung sei die fehlende Raumkapazität: „Im Moment haben wir beispielsweise den Ratskeller, der eigentlich nicht benutzbar ist, zu Arbeitsplätzen umgewandelt. Wir sind unter das Dach gegangen. Die Fläche dürfen wir normalerweise auch nicht benutzen, weil es im Brandfall keinen zweiten baulichen Rettungsweg gibt. Da haben wir eine Ausnahmegenehmigung für ein halbes Jahr bekommen. Wir haben sämtliche Besprechungsräume für die Kontaktpersonen-Nachverfolgung belegt.“

Verstärkend komme hinzu, dass die Bezirke in Berlin nicht selbstständig anmieten dürfen, sondern erst die Zustimmung vom Finanzsenator brauchen und dann nochmal vom Hauptausschuss des Abgeordnetenhauses. Diese Prozesse dauern in der Regel ein halbes bis dreiviertel Jahr. Schließlich stelle sich die Frage: „Kommen wir überhaupt mit der Immobilie ins Landesnetz?“, denn das sei die nächste Voraussetzung. Und beim Personalzuwachs gebe es deutliche Grenzen, denn „die Finanzlage des Landes Berlins spricht nicht dafür, dass wir dauerhaft oder mindestens auf die nächsten fünf Jahre gerechnet, mehr Personal kriegen, um diese Rückstände abzuarbeiten“, macht Sören Benn klar, „für die nächsten Jahre sind wir immer noch weit unter dem Personalniveau, welches wir eigentlich brauchen.“

Helfen könne eigentlich nur noch die Digitalisierung, mit der die Berliner Verwaltungen allerdings auch hinterherhinken: „Wenn Sie plötzlich feststellen, dass die Datenleitung bestimmte Datenmengen überhaupt nicht zulassen, dann müssen Sie anfangen zu buddeln. Das sind bestimmte Engpässe, die können Sie kurzfristig gar nicht abbauen“, stellt Sören Benn klar. Das sogenannte E-Government-Gesetz ist darauf ausgerichtet, in Berlin eine einheitliche IT-Infrastruktur zu etablieren. Bislang hat jeder Bezirk seine eigene IT-Infrastruktur. Inzwischen ist das ITDZ der zentrale IT-Dienstleister, doch auch das Zentrum müsse erst einmal in eine Struktur gebracht werden, um diese Aufgaben überhaupt erfüllen zu können: „Da sind wir Jahre im Rückstand. Aber eigentlich ist die Digitalisierung der Weg, der uns mittelfristig helfen kann, bei einem gleichbleibenden Personaltableau die Verwaltung effizienter zu machen.“

Corona-Partys und Corona-Leugner: Wo liegt eigentlich das Problem?
Überall dort, wo die Bevölkerungsdichte sehr hoch ist und viele Leute keinen eigenen Garten haben, treten Phänomene wie „Corona-Partys“ eher auf als in ländlich geprägten Räumen, wo die Leute schnell im eigenen Garten oder auf den benachbarten Feldern sind. Sören Benn sagt dazu: „Diese, damals als ,Corona-Partys‘ gelabelten Zusammenkünfte haben natürlich eher im Innenstadtbereich stattgefunden und nicht draußen auf dem Land. Oder vielleicht hat man es draußen auch nicht so mitbekommen.“

Die „Corona-Leugner“, speziell in Pankow, erfüllen Sören Benn nicht mit besonderer Sorge. Aber er mache sich natürlich Gedanken über Pankow hinaus und bringt besorgt ins Gespräch: „Außerhalb von Pankow finde ich es schon problematisch. Denn das Phänomen hatten wir ja schon vor Corona, dass es keinen gesellschaftlichen Konsens mehr darüber gibt, auf welcher Basis man eigentlich debattiert. Also, gibt es sowas wie Fakten? Gibt es sowas wie Wissenschaft? Darüber scheint es keine Einigkeit mehr zu geben. Es wird so stark getrieben, auch durch politische Populisten – ob das Trump ist, ob das Orbán ist, ob das Kaczyński ist oder viele andere.

Diesen gesellschaftlichen Grundkonsens, den wir eigentlich versuchen seit der Aufklärung in der Gesellschaft zu etablieren, also vernunftbasiertes Handeln, was sozusagen auf einer wissenschaftlichen Erkenntnis beruht, scheint es so nicht mehr zu geben.“ Jenseits einer nicht mehr verfügbaren Religion macht sich eine Ausweichbewegung bemerkbar, in der sich Menschen andere Ideologien bauen, weil sie die Realität nicht ertragen oder nicht mehr verstehen können, aber verstehen wollen:

„Wir brauchen alle sozusagen eine Matrix, auf der wir halbwegs sicher handeln. Und die besteht im Wesentlichen aus Vorurteilen. Man merkt ja immer wieder, was alles unter dem Label Globalisierung verhandelt wird, was unsere Gesellschaften fragiler macht. Traditionen lösen sich auf, man weiß nicht mehr, wer eigentlich der eigene Vermieter ist, wo er wohnt. Und wo kommt das Zeug eigentlich her, was ich esse?“, versucht Sören Benn Erklärungen zu geben. Diese erkennbare Ausweichbewegung entstammt einer Verunsicherung, die ins Irrationale abdriften kann.

Die Entwicklungen des Internets leisten Sören Benn zufolge auch ihren Beitrag. Heute gebe es nur noch Kommunikationsblasen, die oft keine Überschneidungen haben. Es bilden sich Parallelwelten und subjektive Realitäten.

Bezirk und Senat: gemeinsam oder doch lieber allein?
Wie die Stimmung unter den Berliner Kolleginnen und Kollegen ist, wollten wir wissen. Ähneln sich die Probleme? Die Immobilien- und Personalverfügbarkeit sei nicht in allen Bezirken identisch. Pankow, auch als Schuldenbezirk bekannt, habe mit seinem zusätzlichen eigenen Sparprogramm beispielsweise eine deutlich schlechtere Ausgangslage als andere Bezirke. Doch es gebe gemeinsame Interessen gegenüber dem Senat, was die tatsächlichen Unterstützungsbedarfe angeht.

Allerdings: „Was uns gemeinsam gefehlt hat und teilweise immer noch fehlt, ist, dass der Senat dort, wo in Berlin einheitliches Handeln erforderlich ist, noch unzureichend Vorgaben macht. Es gibt Bereiche, wo wir sagen: ‚Das können wir als Bezirk alleine besser entscheiden.‘ Und es gibt andere Bereiche, wo wir dringend nach Steuerung rufen.“ Grundsätzlich wünscht sich Sören Benn, dass sich die Bezirke hinsetzen, um an einem gemeinsamen Steuerungsziel zu feilen.

Als Beispiel führt er das Ziel an, den Personalausweis überall innerhalb von zwei Wochen auszustellen. Dafür müssen alle Gegebenheiten der einzelnen Bezirke offen besprochen werden, damit sich einheitliche Standards entwickeln lassen. Gerade bei den Teststrategien in der Corona-Zeit seien die Steuerungsimpulse zur Frage, wie mit vulnerablen Gruppen umzugehen sei, regelmäßig zu spät gekommen.

Über Pankow berichtet Sören Benn: „Wir haben sehr früh angefangen, Corona-Kompetenzteams zu bilden, spezielle Einheiten für beispielsweise Kita und Schule, ein Kompetenzteam Pflege und medizinische Einrichtungen, ein Kompetenzteam Obdachlose und Geflüchtetenheime etc. Diese unterschiedlichen Kompetenzteams braucht es, weil es bestimmte gesellschaftliche Bereiche gibt, die spezielle Bedarfe haben, sowohl was Hygienekonzepte angeht als auch was Beratungsleistungen angeht.“ Diese Struktur habe Pankow allein entwickelt, sie haben gar nicht anders gekonnt. Sören Benn fügt hinzu: „Aber es wäre natürlich im Sinne des Infektionsschutzes absolut hilfreich, wenn der Senat erstens schneller ist als ein Bezirk und zweitens dort, wo es eine gute Praxis gibt, diese als Vorbild nimmt, damit es eine große Einheitlichkeit gibt.“

In den Schulen gibt es mittlerweile ein Ampelsystem: Grün, Gelb, Orange und Rot, mit abrufbaren Kriterien. Doch die Gesundheitsämter der Bezirke gehen sehr unterschiedlich mit den Einstufungen der Schulen um, was bei den Eltern und in der Lehrerschaft mitunter zur Verwirrung führt. Warum gibt es so viele gelbe Schulen in Neukölln und so viele orangene Bezirke in Reinickendorf? Wo die doch ganz andere Inzidenzen und Fallzahlen haben? Diese Einschätzung bleibe den Bezirken überlassen. Aus diesen Gründen hat Sören Benn den Wunsch: „Da wäre ein bisschen mehr Steuerung durchaus richtig.“

Kritik am Lockdown
Sören Benn forderte sehr früh einen kontrollierten Lockdown, zu einer Zeit, als ein Lockdown noch als absurd eingestuft wurde. Insofern erntete er mit seinem Anliegen keine Begeisterung, vielmehr stieß er auf Widerstand. Seinen Standpunkt begründet er so: „Wenn man das Zeitfenster eines Lockdowns rechtzeitig vorher kennt, lassen sich Einnahmeausfälle viel besser bilanzieren, nachweisen und dann auch kompensieren. Man kann den Einkauf der eigenen Firma, den Mitarbeitereinsatz und Veranstaltungen besser steuern.“

Natürlich trage er den aktuellen Lockdown mit, „aber ich glaube, dass er nicht weitreichend genug ist. Auf der einen Seite finde ich ihn zu lang, auf der anderen Seite zu halbherzig. Ich kann zum Beispiel nicht nachvollziehen, warum alle Kultureinrichtungen schließen sollen, die Shoppingmalls aber offenbleiben dürfen. Ich verstehe, dass Apotheken und Supermärkte offenbleiben. Aber wenn ich in den vier Wochen tatsächlich einen Schlüpfer brauche, dann kann ich mir den auch online bestellen.“

Genauso wenig Verständnis bringt Sören Benn den Maßnahmen für Schulen und Kindergärten entgegen: „Ich wäre dafür gewesen, die Präsenzpflicht aufzuheben, mit einem schriftlichen Einverständnis der Eltern. Ich kann die Diskussion nachvollziehen, dass man Kinder, deren häusliches Umfeld ein Lernen zu Hause nicht hergibt, nicht nach Hause schicken darf. Aber es gibt auch einen relevanten Anteil an Schülerinnen und Schülern, die gut von zu Hause lernen können. Ich finde es unverständlich, warum dieses Kontaktreduzierungs-Potenzial nicht genutzt wird. Es zu nutzen hätte bedeutet, die Schule weiterlaufen zu lassen, die Präsenzpflicht aufzuheben, um Präsenz- und Hybridunterricht miteinander zu kombinieren. Gerade für die Älteren hätte das funktionieren können.“ Eltern, die zum Beispiel Schicht arbeiten, wüssten ihre Kinder in der Schule gut betreut. Eltern hingegen, die „in keinem harten Nine-to-Five-Regime stecken“, könnten es flexibel regeln. Und andere wiederum könnten es von der heimischen technischen Ausstattung abhängig machen.

Die Corona-Fälle an Kitas und an Schulen betreffen bislang überwiegend das Lehr- und Betreuungspersonal, weniger die Schülerschaft selbst. Mittelfristig kann das ein brisantes Thema werden, wenn der Schulbetrieb durch fehlendes Lehrpersonal nicht aufrechterhalten werden kann. „Doch auch hier haben wir wieder das Problem mit der nicht flächendeckend vorhandenen Hardware oder den mangelnden Cloud-Lösungen. Ideal wäre, wenn du im Unterricht eine Kamera aufstellst und den Unterricht für die Schülerinnen und Schüler zu Hause streamst. Es ist einfach nur Technik. Aber die Schulen haben überhaupt nicht die technischen Voraussetzungen, um sowas überhaupt machen zu können“, fasst Sören Benn das Problem zusammen. Die Schulen haben nicht die technischen Voraussetzungen, um den Unterricht in die Kinderzimmer zu „streamen“.

Umgang mit dem Lockdown
Inzwischen gibt es in der Verwaltung funktionierende Hygienekonzepte, sodass nicht mehr alle Mitarbeitenden nach Hause geschickt werden müssen. Sören Benn hofft so auf eine halbwegs stabil laufende Verwaltung bis zum Jahresende: „Ich hoffe sehr, dass auch dieser Teil-Lockdown zu einem deutlichen Abflachen der Kurve führt. Ansonsten habe ich an das Jahr einfach nur die Hoffnung und die Erwartung, dass es nicht mehr schlimmer wird.“

Was Weihnachten angeht, teilt er die aktuell kursierenden Lästereien nicht, denn es gebe nun mal Menschen, denen Weihnachten tatsächlich etwas bedeute: „Nicht alle Menschen stehen auf dieses Treffen der Generationen. Aber viele Menschen stehen eben doch drauf. Und gerade die Menschen, die alleine sind, die ihre Familien nur zwei- oder dreimal im Jahr sehen, für die ist Weihnachten ein emotionaler Sehnsuchtsort. Auch wenn diese Sehnsucht regelmäßig enttäuscht wird.“ In diesem Sinne wünscht sich Sören Benn, dass Begegnungen an Weihnachten möglich sind, weil die Menschen einfach diese Atempausen brauchen. „Mit Atempause meine ich nicht, gleich wieder heftig in die Party einzusteigen, sondern einfach nur, dass wir ein bisschen mehr Lockerung reinbekommen. Dass Menschen sich besuchen können, dass Menschen vielleicht irgendwo in den Weihnachtsurlaub fahren können. Das entzerrt ja auch“, äußert Sören Benn seine Weihnachtsvision.

An seiner grundlegenden Position ändert diese Vision allerdings nichts: „Lockdowns werden, bis die Impfstoffe verfügbar sind, immer wieder notwendig werden. Ich hoffe, dass meine Einschätzung falsch ist, aber ich würde aus diesem Lockdown nicht immer dieses Horrorszenario machen. Wenn wir das regelmäßig machen, in möglichst großen Abständen, dann kommen wir gut über die Zeit, bis die Impfstoffe so weit in der Bevölkerung wirken, dass es dann auch nachhaltig abflaut.“

Dass dieser zweite Lockdown vielen Menschen ordentlich aufs Gemüt schlägt, davon ist auch Sören Benn überzeugt. Dieses „schaumgebremste Leben“ gehe den Menschen an die Seele, es mache einfach keinen Spaß. Hinzu komme die dunkle, kühle Jahreszeit und die Tatsache, dass viele Leute inzwischen auch weniger Geld haben, was natürlich auch die Konsumlaune bremse. Und dann stehe noch Weihnachten vor der Tür, wo die Menschen trotz aller Umstände gern Geschenke machen möchten.

Ideen für den Einzelhandel und die Wirtschaft
Das Gespräch über die menschliche Gemütslage führt uns zu den Konsum-Gutscheinen. Sören Benn spricht über solche Vorschläge, die nicht nur aus seiner Partei gekommen seien: „Wir sollten Konsum-Gutscheine an die Gesamtbevölkerung oder an Bevölkerungsteile ausgeben, die unter einem bestimmten Einkommensniveau sind. Weil wir wissen, dass unterhalb eines bestimmten Einkommensniveaus staatliche Zuschüsse sofort in den Konsum fließen.“ Auch von Hartz IV betroffene Menschen müssen eine Art „Corona-Bonus“ bekommen, denn auch sie haben mit Masken oder der Ausstattung für die Kinder deutlich höhere Aufwendungen, die mit dem Regelsatz nicht abzudecken sind.

Die Menschen haben viele Mehrkosten durch Corona, die nicht aufgefangen wurden. Neben den Konsum-Gutscheinen könne sich Sören Benn auch die Ausgabe von Gastro-Gutscheinen vorstellen. „Aber was jetzt schon richtig gut ist, dass die Gastro-Branche 75 Prozent der Einnahmen aus dem letzten November erhält. Ich glaube, wenn die offen geblieben wären, hätten sie nicht die 75 Prozent des letzten Jahres gehabt“, führt er aus. Er könne auch dem Vorschlag Nils Busch-Petersens folgen, die Geschäfte an den vier Adventswochenenden aufzumachen, damit sich die Kundenströme besser verteilen. Denn „irgendwann kommt das Dezemberfieber mit den Weihnachtseinkäufen und das werden die Leute auch nicht alles online machen.“

Trotzdem glaubt Sören Benn, dass die Welt nach Corona nicht die gleiche sein wird wie vor Corona: „Gewohnheiten werden sich nachhaltig verändern. Leute, die früher nicht online eingekauft haben, kaufen jetzt online. Sie haben Erfahrungen damit gemacht und werden die auch weiter machen. Das gleiche gilt für Reisebüros. Da gibt es sicherlich nochmal einen Digitalisierungsschub, den man auch nach Corona merken wird.“ Die Auswirkungen auf den Einzelhandel waren schon vor der Digitalisierung spürbar. Corona hat für eine Beschleunigung gesorgt.

Das Thema der Shoppingmalls komme immer wieder auf den Tisch. „Heute muss man eine Shoppingmall anders denken als noch vor 20 Jahren. Du musst unterschiedlichste Dienstleistungen und Anlässe in ein solches Gebäude packen, die nicht nur Einkaufen sind. Es braucht ein attraktives Gastro-Angebot, genauso wie Kulturangebote. Solche Einkaufspaläste müssen heute inhaltlich völlig anders gefüllt werden, damit es mehr als einen Grund gibt hinzugehen. Sprich Angebote, die es eben nicht online gibt“, verdeutlicht Sören Benn das Konzept der Shoppingsmalls von heute.

Wenn Sören Benn an die Rettung des Einzelhandels denkt, die ihn nicht erst seit Corona umtreibt, vertritt er die feste Überzeugung, dass eine diverse Gestaltung nötig sei und: „Geschäftsstraßen brauchen ein digitales Abbild.“ Wenn diese Straßen eine Chance haben wollen, müssen sie sich zusammenschließen. Dann müsse die Kundschaft, wie bei Amazon, auch alles in einer virtuellen Geschäftsstraße kaufen können. Das erfordere eine gemeinschaftliche Organisation der Lieferdienste, damit die Bestellungen und Lieferungen genauso bequem sind wie bei den einschlägigen Onlineplattformen. Zusammenschlüsse in Straßenzügen, zum Beispiel für Feste, sind inzwischen beschwerlicher geworden. Der Blick auf die langfristige Investition fehlt.

Wer im Kiez verwurzelt ist und gute persönliche Kontakte hat, kommt in der Regel besser durch die Krise als die anderen. Im Vorteil sind natürlich auch die Kneipen mit Außenbereichen. Doch was ist mit den anderen? „Je kleiner du bist, desto weniger Chancen hast du auch, über die Krise zu kommen. Dieses Ungleichgewicht ist gar nichts Neues. Die Krise bringt die Unterschiede zwischen den Potenten und den anderen nochmal stärker hervor. Das ist in dem Fall keine marktgetriebene Bereinigung, aber doch eine Art Marktbereinigung, die durch Corona sicherlich das Bild der Berliner Kieze verändern wird. Leider.“ ■

© Fotos: Pavol Putnoki