Eine Kolumne von Wladimir Kaminer
Im Laufe des Gesprächs kamen beide Seiten zu dem Kompromiss, dass der Erdkern bei der Erschaffung der Erde eine angenehme Zimmertemperatur gehabt haben muss, die im Laufe der Zeit immer weiter stieg, angeheizt durch den Zorn Gottes über das menschliche Treiben auf der Oberfläche. Je mehr die Menschen sündigten, umso heißer wurde der Kern im Erdinneren. Die Frage nach Gottes verbranntem Finger wurde in gegenseitigem Einverständnis nicht weiter diskutiert. „Wir wissen es nicht“, sagte der Lehrer.
Und wir wissen, dass wir es nicht wissen. Er hatte natürlich recht. Für vieles, woraus unser Leben besteht, haben wir keine plausible Erklärung. Unsere Vorstellungen von der Welt sind auf Mythen und Legenden aufgebaut, die durch andere Mythen und Legenden zustande gekommen sind. Die Wahrheit lässt sich nicht eindeutig ermitteln. Ich bin in einem atheistischen Staat aufgewachsen, statt des Gottesfingers beschäftigte mich in den jungen Jahren stark das große Spinaträtsel. Als Kinder wurden wir von den Erwachsenen gezwungen, den für uns ekligen Spinat zu essen, immer mit der Behauptung, dies sei notwendig, weil Spinat unheimlich viel Eisen enthalte. Das Spinateisen konnte aber nur in Verbindung mit Orangensaft von den Körperzellen aufgenommen werden, deswegen musste man die furchtbar riechende grüne Grütze mit Orangensaft runterspülen.
Dabei reichte ein kurzer Blick auf jede Spinatpackung, um festzustellen, dass Spinat überhaupt kein nennenswertes Eisen enthält. Laut einer Legende war dieses Missverständnis 1934 entstanden, durch einen Druckfehler in einem wissenschaftlichen Artikel über die chemische Analyse des Spinats. Ein Komma war zufällig eine Position nach rechts gerutscht, das Ergebnis dementsprechend verzehnfacht. Doch alle meine Versuche, den fehlerhaften Artikel zu finden, scheiterten.
Stattdessen fand ich den amerikanischen Zeichentrick Popeye – Der Seemann mit dem harten Schlag über einen Angehörigen der Marine, der durch den Verzehr von Spinat unglaublich große Muckis bekommen hat. „Popeye“ steht umgangssprachlich für Spinat und der „eye pop“ für ein unglaubliches Wow-Ereignis. Der Autor dieses Comics wollte damit Werbung für eine gesunde Ernährung von Kindern machen und wählte den Spinat willkürlich, auf der Ekelskala von 1 bis 10 hat er dafür bei den Kindern 11 Punkte bekommen. Im Ergebnis stieg aber die Spinatproduktion in den Staaten stark an, und der Seemann mit dem hartem Schlag hat mehrere Denkmäler von dankbaren Spinatproduzenten in etlichen Staaten der USA bekommen. Doch nirgendwo in diesem Film war von Eisen die Rede. In einer Serie spricht Popeye Klartext und sagt, im Spinat sei Vitamin A in großen Mengen vorhanden, was auch stimmt. Wie nun das verfluchte Eisen in den Spinat reingekommen ist, weiß anscheinend keiner. Meine Cousine Jana hatte ihren Spinat immer heimlich in Mamas Blumentöpfen entsorgt, die Pflanzen sind tatsächlich groß und stark geworden. Doch vielleicht wären sie das auch ohne Spinat. Das werden wir nun nie erfahren. Übrigens hat „spinach“ auf Englisch noch eine zweite Bedeutung, so nennt man Unsinn und Betrug.
Infobox
Wladimir Kaminer
Privat ein Russe, beruflich ein deutscher
Schriftsteller, ist er die meiste Zeit
unterwegs mit Lesungen und Vorträgen.
Er lebt seit 1990 in Prenzlauer Berg.
Kürzlich erschien sein neues Buch
Mahlzeit!
Geschichten von Europas Tischen
im Goldmann Verlag.
Mahlzeit!
Geschichten von Europas Tischen
Kaum jemand ist so neugierig auf seine Nachbarn wie Wladimir Kaminer. Egal ob es um einzelne Menschen oder ganze Länder geht.
Und wie könnte man einander besser kennenlernen als beim gemeinsamen Essen?
208 Seiten | August 2024 | Goldmann
Verlag, Originalausgabe
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