Auf dem Berliner Hauptbahnhof streune ich zum ersten Mal aus einem anderen Grund herum, als mich auf eine Reise zu freuen oder auf jemanden, den ich abhole. Ich habe keine Ahnung, ob ich hier heute Abend jemanden abhole. Und wer das sein wird, weiß ich erst recht nicht. Eine kleine Gruppe Fußballfans grölt, schwenkt Schals und Bierflaschen. Fünf betrunkene Männer, die lauter sind als die siebenhundert Menschen, die am Ende des Bahnhofes ein scheinbar chaotisches Gewusel bilden. Eine große Halle liegt am Übergang zum U-Bahnhof. Die ist mir noch nie aufgefallen. Hinter einer Absperrung stehen circa vierhundert Leute. Einige halten Schilder hoch. Große und kleine Strichmännchen, dazu ein Haus. „7 Nights“, steht da zum Beispiel. Dazwischen Helfer in gelben Westen.
Ich will keine fremden Leute mit nach Hause nehmen. Ich will aber auch nicht ins Bett gehen mit dem Gefühl, dass hier am vier Kilometer entfernten Hauptbahnhof vielleicht Menschen auf mich warten. Würde mein Land überfallen, wäre ich auch sofort weg. Das haben wir doch aus den Geschichtsbüchern gelernt: lieber gleich abhauen. Nicht lange überlegen. Draußen sind vier Grad. Im Bahnhof vielleicht sechs.
Ich wollte eigentlich nur kurz nachsehen, wie die Lage ist und ob es vielleicht einfach genügend Helfer gibt, genügend Familien, die Platz haben, Betten, Bettdecken, Duschen und Essen im Kühlschrank, das auch für ein paar mehr Leute reicht. Genau das ist bei uns der Fall. Kann ich nicht leugnen, aber offenbar ist es ja auch bei den vielen Wartenden hinter dem Absperrband der Fall. Das wird doch reichen, denke ich und will wieder gehen. Wo ich hin will, fragt mich ein Helfer, als ich eine unklare Absperrung passiere. „Ich wollte Betten anbieten“, sage ich kleinlaut. Das sei toll, sagt er. In einer halben Stunde kämen zwei Züge auf Gleis 14. Einer aus Polen, einer aus Tschechien. Es würden aus jedem circa vierhundert Ukrainer aussteigen. Und gegen 19:00 Uhr käme noch ein Sonderzug mit circa Tausend Flüchtenden. Gestern Nacht habe ein ukrainischer Vater mit seiner Tochter acht Stunden gewartet, bis sie jemanden fanden, der sie mitgenommen habe, sagt er.
Okay, ich hole mir erstmal einen Kaffee. Links und rechts Berge aus Kisten mit Windeln, Feuchttüchern, Lebensmittelpackungen und Getränken. Tische mit Infoblättern und so viele Menschen, die auf Koffern sitzen, auf dem Boden und den wenigen Bänken. Helfer und Flüchtlinge sind nicht zu unterscheiden, denn auch Helfer sind mit Kindern hergekommen, packen palettenweise Babybrei aus dem Kinderwagen auf die Tische.
Ich stehe mit meinem Kaffee auf Gleis 14. Ein Zug fährt ein, die Leute auf dem Bahnsteig schwenken blaugelbe Fahnen, halten „Welcome“-Schilder hoch und begrüßen den Zug, dessen Fenster Gemälde sind. Jedes ein Bild aus traurigen Frauengesichtern, die nicht wissen, ob sie ihre Söhne, Männer, Väter je wiedersehen werden. Am unteren Rand die Kinder, darüberstehend Frauen jeden Alters. Kein Lächeln über den freudigen Empfang. Nicht eins. Jedes Fenstergemälde so erschreckend schön, dass ich, irritiert von meinen widersprüchlichen Emotionen, die Treppe runterlaufe. Wovor laufe ich weg? Vor möglichen Tränen, die ich nicht von Nahem sehen will? Ich laufe ins Untergeschoss, wo ich jetzt hingehöre, zu den Wartenden und stelle mich dazu.
Durch Megafone wird uns zugerufen: „Zwei Frauen, drei Kinder, bis Montag.“ Es melden sich alle, die sie aufnehmen können. Jemand nimmt elf Personen auf. Alle klatschen. Die Stimmung ist spannungsgeladen, als hätten sich alle angestellt, um eine Mutprobe zu bestehen.
Ein Vater sagt zu seinem Sohn: „Hör mal auf, immer so mit dem Schild rumzuwedeln. Wenn wir bei ner Auktion wären, hätten wir schon Hausverbot.“
Leute, die nur für ein paar Tage ein Bett brauchen, finden am leichtesten jemanden, der sie mitnimmt. Die kein Englisch sprechen, am schwersten.
Ich melde mich bei der Durchsage: „Ein junges Pärchen – vorläufig unbefristet“ und werde zu einer Frau in gelber Weste geleitet. Die beiden würden gerade Sim-Karten holen, sagt sie. Sie seien Anfang Dreißig und kämen südlich von Kiew, aus Dnipropetrowsk. Sie bedankt sich bei mir für die Bereitschaft, die beiden aufzunehmen, betrachtet mich aber prüfend, als müsste sie mir ihre eigenen Kinder anvertrauen und ich zeige ihr, als wollte ich ihre Kinder übernehmen, am Handy ein Foto meines Gästezimmers, das ich vorhin hergerichtet habe. Ich soll mir ein Infoblatt holen gehen, um später herauszufinden, wo ich die beiden registrieren lassen muss. Als ich die Halle verlasse, denke ich, jetzt könnte ich im Gewimmel einfach wieder verschwinden. Niemand würde mich je dafür behelligen. Am Infostand ist keiner. Ich nehme mir von jedem Blatt eins und es fühlt sich irgendwie gut an, etwas in der Hand zu haben, woran ich mich festhalten kann. Jetzt erst bin ich wirklich Teil dieses Geschehens. Jetzt erst fällt mir ein, dass auch mein Mann und meine Tochter Teil des Geschehens sind. „Bringe ein Pärchen mit“, tippe ich schnell ins Handy und was ich in diesem Moment noch nicht weiß, ist, dass meine siebzehnjährige Tochter daraufhin verzweifelt: „Ich will keinen fremden Mann in der Wohnung, warum entscheidet Mama sowas alleine? Ich wohne doch auch hier!“ Sie lässt sich von meinem Mann, der nicht ihr Vater ist, beruhigen und ruft ihren Vater an, der dasselbe sagt, wie mein Mann: „Die Leute brauchen aber jetzt Hilfe. Du würdest doch auch wollen, dass dir jemand hilft.“ Ja, das will sie und versteht es.
Die Leute, das sind eine junge Frau mit Kopftuch mit stylischen Plateauschuhen und schönen, aber geröteten Augen und ein junger Mann, klein und wahrscheinlich auch arabischer Herkunft, mit fragendem Blick. Sie kommen auf uns zu. „Khadi und Abdel“, sagen sie höflich und lächeln vermutlich unter den Masken. Wir ziehen die Koffer durchs Gewühl in die S-Bahn, wechseln wenige Worte in Englisch, ich erkläre, wie weit wir fahren, und als wir in der Straßenbahn sitzen, frage ich, wo sie eigentlich die letzten drei Tage geschlafen haben. Sie haben nicht geschlafen. Klar. Wo auch. „Hunger?“, frage ich. Ein bisschen. Mein Mann hat Kuchen gebacken, erzähle ich und denke: Was hab ich mir nur vorgestellt? Dass ich zwei gut gelaunte, ausgeschlafene Übernachtungsgäste mitbringe?
Im Fahrstuhl stehen wir eng und ich spüre, es ist ihnen peinlich, weil sie seit drei Tagen ihre Kleidung nicht wechseln konnten.
In der Wohnung sehen wir einander zum ersten Mal ohne Masken.
Der Kuchen schafft es tatsächlich, dass sie noch mal ein bisschen wach werden und erzählen. Khadi ist 27, hat in Marokko Informatik studiert und dann in Dnipropetrowsk noch Ingenieurin für Straßen-und Brückenbau. Vor sechs Wochen hat sie ihren Abschluss gemacht. Abdel ist 30 und studiert Sport. Da er in Marokko geboren ist, durfte er, im Gegensatz zu seinen männlichen Freunden, die Ukraine verlassen.
Sie sprechen Französisch, Arabisch, Russisch, Ukrainisch und Englisch. Meine Tochter gibt den beiden das WLAN-Passwort, wir zeigen ihnen die Wohnung und gehen schlafen.
Beim Frühstück sind Khadis Augen weniger rot. Aber als sie von der letzten Woche erzählt, weint sie immer wieder. An ihre Ukrainischen Freunde habe man Kalaschnikows verteilt. Zur Verteidigung. Man sagt, die Russen hätten sich ukrainische Uniformen angezogen, bei Leuten an den Türen geklopft und sie sofort erschossen. Die Russen würden nichts zu essen bekommen, es gäbe keine Feldküchen, deshalb kämen sie Wohnungen plündern. Trotzdem würde ihre Uniprofessorin dableiben, sagt Khadi. Sie würde lieber in ihrem Land sterben, statt zu flüchten. So denken viele.
Dnipropetrowsk haben die beiden mit dem Bus verlassen und die Bomben so nah detonieren gehört, dass alle schrien vor Angst. Sie müssten durch die nächste Stadt fahren, in der jetzt gekämpft würde, sagte der Busfahrer, es gäbe keinen anderen Weg. Bei jeder Detonation schrie der ganze Bus. Sie weint auch, als sie erzählt, wie sie an der Grenze behandelt wurden. In der Ukraine ist man sehr freundlich zu Ausländern, aber an der polnischen Grenze waren sie Flüchtlinge zweiter Klasse und wurden stundenlang auf freiem Feld im Schnee stehen gelassen. Viele weinten einfach nur, weil sie so froren, sagt Khadi.
Sie könne die Bilder nicht vergessen, die sie auf der Fahrt gesehen habe, sagt sie, hält die Hände vors Gesicht, als versuche sie sich nachträglich die Augen zuzuhalten. Wir wechseln das Thema, reden über verschiedene Frühstücksgewohnheiten, aber trotz der scheinbaren Normalität ist alles verstörend und nichts ist wirklich zu verstehen.
Beim Spaziergang zum Brandenburger Tor geraten wir in eine Demo, die vor der russischen Botschaft beginnt und endet. „Slava Ukrayini – es lebe die Ukraine“, rufen wir.
Abdel redet mit meinem Mann und ich verstehe immer nur Putin. Mit leuchtenden Augen, wie man ein Schaufenster voller Diamantschmuck bestaunt, fragt mich Khadi, ob Frauen hier wirklich Frauen heiraten dürften.
Die beiden telefonieren ununterbrochen. Dann machen wir Selfies vorm Brandenburger Tor,
kochen abends zusammen und Khadi sucht die Gewürze aus.
Wir erfahren, dass die Privataufnahme am Hauptbahnhof eingestellt wurde. Alle sollen weiterfahren und sich in andere Bundesländer verteilen.
Wir erfahren auch, dass Marokko alle zurückholen will und dass die beiden auf keinen Fall Asyl beantragen sollen. Es gäbe Vorteile, die sie dann nicht mehr hätten.
Ich überlege, warum mein Arm ausgerechnet bei dem Ausruf „junges Pärchen“ sofort hochgeschnellt war. Vielleicht, weil es sich irgendwie tröstlich stabil anhörte, inmitten des Chaos und weil ich mit der brutalen Vorstellung, meinen Mann und meinen erwachsenen Sohn im Krieg zurücklassen zu müssen, nichts zu tun haben will.
Am Abend sage ich zu Abdel:
„This is your key.“
„No, it’s not mine“, sagt er.
„Yes, for now it’s yours.“
Franziska Hauser
Franziska Hauser lebt im Prenzlauer Berg und ist meist im Teeladen „Make Tea not War“ in der Heinrich-Roller Strasse 6 anzutreffen.
Die Gewitterschwimmerin
EICHBORN Verlag, 431 Seiten, 22,00 €
ISBN: 978-3-8479-0644-5
Ihr aktueller Roman „Die Gewitterschwimmerin“ wurde für den Deutschen Buchpreis 2018 nominiert.