„Ich bin ein Träumer“

Liedermacher Moritz Schanz

Der Berliner Künstler Moritz Schranz aka Môrre feiert im Herbst gleich zwei Premieren: Er stellt sein Debütalbum in einem Release Concert vor und arbeitet erstmals an einem literarisch-musikalischen Projekt, für das er neue Chansons schreibt.

Unser Autor Hans-Jürgen Schatz hat den Liedermacher live auf der Bühne als auch privat getroffen.

Titelfoto © Dajana Prosser-Gehn

Der Liedermacher Moritz Schanz und sein Alter Ego Môrre

Von Hans-Jürgen Schatz

Im Showgeschäft genügt es nicht, nur besser zu sein als die anderen. Du musst anders sein, dich unterscheiden. Und das hat man oder hat man nicht. Aussehen, Stimme, Habitus, Ausstrahlung. Auch der Wiedererkennungswert bestimmt deinen Weg. In allem ist Moritz Schanz unverwechselbar und nimmt diese Eigenschaften als Môrre mit aufs Podium. Und das kommt an. Da bräuchte es seinen roten Lieblingsanzug gar nicht mehr. Aber der ist (vorerst noch) das i-Tüpfelchen seiner Bühnenauftritte. In diesem Herbst gibt es für den Berliner Künstler gleich zwei Premieren: Er stellt sein Debütalbum in einem Release Concert vor und arbeitet erstmals an einem literarisch-musikalischen Projekt, für das er neue Chansons schreibt.

Von Môrre gelesen habe ich zuerst auf Facebook. Zum ersten Mal live erlebt habe ich ihn im Columbia, wo ich beim Jubiläumskonzert des Rockpoeten Arno Zillmer (s. Mein/4, 11/21) die Laudatio auf den Gastgeber hielt und Môrre, als dessen oftmaliger Bühnenpartner, natürlich als musikalischer Gast mit von der Partie war. Seinen Hit Drachenlied, der eine ansehnliche fünfstellige Zahl von Klicks auf YouTube erreicht hat, sang er dort auf großer Bühne mit Arnos Band. Das war klasse und wurde vom textsicheren Publikum honoriert: „Steig einfach auf, du wirst es lieben. Auf meinem Drachen kannst du fliegen …“

Môrre und Arno Zillmer auf der COLUMBIA-Bühne

Aber Môrres ungeheure Intensität im Vortrag entwickelt sich erst recht, wenn er allein am Flügel sitzt und in gelungener Mischung seine Songs mit manchmal schlagerhaften Anklängen und seine Chansons singt. Seine Sensibilität, seine Empathie, seine berührenden leisen Töne, sein jungenhafter Charme und sein außergewöhnlicher Wortschatz entführen in die Gefühls-, Gedanken- und Sprachwelt, in der Môrre und Moritz zu Hause sind und in der sich das Publikum an den Abenden, die ich in Berlin und vor den Toren der Stadt miterleben durfte, immer wohler fühlte und den Künstler schließlich feierte.
Auf der After Show Party von Arno Zillmers großer Bühnensause kam der Mann im roten Anzug auf mich zu, und wir steckten sofort in einem interessanten Gespräch. Nicht nur Môrre, auch Moritz hat allerhand zu bieten. Er ist immer für eine Überraschung gut, nicht nur wenn er gedankliche Haken schlägt, die erst einmal verwirren können. Manchmal ist er nicht von dieser Welt und wirkt wie „Der kleine Prinz“ auf einem anderen Planeten. Er konfrontiert dich mit genauso ernsthaften Ansichten und Fragen wie dieser, auf die man nicht sofort eine Antwort weiß.

 Wer oder was ist Môrre?

Natürlich nennt man sich als Künstler nicht ungestraft Môrre, und so war ich wahrscheinlich der Trillionste, der gleich mal wissen wollte, warum Moritz nicht unter seinem Namen auftritt. Ich ahnte nicht, dass ich damit einen wunden Punkt in Moritz‘ Leben berührte. „Auf Klassenfahrt haben drei Mitschülerinnen mit mir ins Gespräch gefunden und gefragt, wie ich das Mobbing der Klasse eigentlich aushalte. Ich habe auf den Boden geschaut und leise geantwortet: ‚Ich höre Musik.’ Bis heute habe ich nicht verstanden warum, aber die Mädchen haben angefangen zu weinen und dann mit den anderen über mich gesprochen. Am selben Abend ist die ganze Klasse auf mein Zimmer gekommen und hat sich entschuldigt. Seitdem haben sie mich Môrre genannt und ich war plötzlich einer von ihnen. Das werde ich nie vergessen.“

In der aktuellen medialen Berichterstattung und Diskussion ist Mobbing unter Kindern immer wieder ein Thema. Wie kam es in Moritz‘ Schule dazu? „Es begann in der achten Klasse mit dem Umzug in eine andere Stadt. Ein schüchterner Junge in knallorangener Cordhose mit einer Vorliebe für deutsche Kuschelmusik à la Rosenstolz. Da musste aus mir ja der Klassenidiot werden! Auf dem Schulhof stand ich allein, man hat mir Sand in den Pullover geworfen. Aber vor allem das Lachen der anderen über mich war schlimm. Ich war nicht in der Lage, mich dagegen zu wehren. So zynisch es auch klingen mag, aber dadurch war ich ein attraktives Opfer. Ich habe gebetet, dass es aufhört. Gewünscht habe ich mir damals ein Lied wie mein Du lachst so schön. Eines, das mir sagt, dass ich auch in komischen Klamotten und meiner uncoolen Ausstrahlung irgendwie okay bin und dazu gehören darf.“

Premiere mit Hans-Jürgen Schatz in der WABE

Moritz, der Herzensbrecher?

Auch heute versteht er zu rühren. Es gibt Momente während seiner Auftritte, wo es ganz still wird im Raum. Und nicht nur den Mädchen ist dann nach Weinen, weil der Liedermacher Moritz seinem Môrre immer wieder sehr persönliche, manchmal intime, auf jeden Fall frappierend ehrliche Momente getextet und komponiert hat, in denen es ans Eingemachte geht und sich das Publikum selber wiederfinden kann. Ich möchte mich da nicht ausschließen. Moritz hat es einfach drauf. Apropos: Wie war es denn sonst in der Schule mit den Mädels? War ihr Môrre ein Herzensbrecher?

„Nein, das war eher umgekehrt. In meine Grundschulklasse ging ein Mädchen, das hieß Stina. Ich habe Stina gemocht. Mit Stina war ich oft auf dem Spielplatz, im Laden daneben haben wir Süßigkeiten gekauft und dann sind wir nach Hause. Dabei haben wir uns Geschichten erzählt. Von zwei Menschen, die hießen wie wir: Moritz und Stina. Aber die waren schon erwachsen. Am Ende haben wir immer geheiratet und sehr viele Kinder bekommen. So haben wir uns durch den Tag geträumt. Stina hat heute tatsächlich schon drei Kinder. Und ich bin immer noch ein Träumer.“ Als Môrre diese Geschichte kürzlich während eines Konzerts auf der Bühne erzählte, rief jemand hinauf, warum Stina und er denn nicht zusammengeblieben wären und geheiratet hätten.

„Das hat einen Grund und der heißt Ole. Auf Klassenfahrt standen wir zusammen, haben gespielt und Stina sollte einen von uns beiden küssen. Sie hat Ole geküsst und meine Welt ist zum ersten Mal untergegangen. Ich fand Ole sooo blöd, das kann ich gar nicht beschreiben.“ Das gab im Publikum einen großen Lacher. Auch Moritz lacht gern. Und wenn es ihn so richtig packt, dann kann das ein mitreißendes Gegacker werden.

Studiopause auf der Schönhauser Allee: bester Freund und Musikproduzent Max Rêve
Probenraum und Lieblingsort in Pankow: Das Theater Boka von Olivera Becker

Weinen, jubeln und Marathon laufen

„Wenn ein neues Lied entsteht, ist es immer das schönste der Welt! Ich könnte weinen, jubeln und einen Marathon laufen gleichzeitig in solchen Momenten. Ich sitze dann abends am Klavier und begebe mich ganz und gar in meine Gefühlswelt hinein. Es ist schon magisch, wie manche Sätze etwas erzählen, was ich selbst vorher nicht von mir gewusst habe. ‚Ich würde gerne bei dir bleiben, um an irgendetwas zu glauben‘ ist etwa so eine Zeile. Oder auch ‚Ich will nach Haus gehn, ohne mich zu fragen, wo zu Hause für mich ist.‘ Es ist seltsam, all diese Momente, die ich über Jahre gesammelt und aufgeschrieben habe, jetzt gebündelt in die Welt zu schießen. Manchmal möchte ich mich wie mit 18 wieder nackt auf die Bühne stellen, um jeden davon abzuhalten, einfach so über die Lieder hinwegzuhören.“ Ich kenne allerdings niemanden, der über Môrres Lieder einfach hinweghören würde. Das geht gar nicht. Entweder hält dich der Text fest und geht dir nicht mehr aus dem Kopf, oder die Musik verführt zum Mitwippen. Und ganz schlimm kommt es, wenn du eine Melodie nicht vergessen kannst. Auch da versteht Môrre den Haken auszuwerfen. Er schreibt Lieder mit Ohrwurmqualität. Aber ich wollte eigentlich fragen: Wieder nackt? Môrre war nackt auf der Bühne?

„Nein, nicht ganz. Mit achtzehn Jahren betrat ich das erste Mal eine Bühne. In Unterhose. Ich habe den Leuten vor Augen zwingen wollen, wie nackt ich mich fühlte. Wie intim und verletzlich dieser Moment ist. Ich habe nie geschrieben, um auf irgendeiner Bühne zu stehen. Ich habe geschrieben, um nicht verrückt zu werden. Am nächsten Morgen stand auf der Titelseite der Magdeburger Zeitung: ‚Nackt gemacht.‘ Ein großer Erfolg für einen jungen Musiker!“

Superstar

„Und plötzlich haben alle gedacht, dass ich berühmt werde. Meine Mutti hat es sich sehr gewünscht. Aber ich habe gewusst, dass ich kein Superstar bin. Mit dem Berühmtsein ist es wie bei den Olympischen Spielen: Du musst es wollen, wie kein anderer! Und ich wollte lieber eine Familie und einen Garten und ein Klavier im Wohnzimmer. Für meine Mutti habe ich ein lustiges, kleines Lied geschrieben: ‚Mama, ich werd‘ Superstar!‘“ Aber es ist mehr als nur ein lustiges, kleines Lied. Es handelt von einem Menschen, der das Leben auch ohne den großen Ruhm liebt, der einfach gern Musik macht und das Leben liebt. Und Môrre, dieser hochsensible, manchmal introvertiert und weltfremd wirkende Mensch, lässt hier beim Singen ordentlich die Sau raus. Er kann auch anders …