Kultur im Kiez entdecken

Text & Fotos: Marc Lippuner

Nördlich der Torstraße liegt die Rosenthaler Vorstadt. Soweit herrscht Einigkeit auf verschiedensten historischen Karten und in aktuellen Kiezbeschreibungen.

Wie weit sie sich jedoch in die anderen drei Himmelsrichtungen ausdehnt, lässt sich weniger einfach greifen. Historisch gesehen reichte sie bis nach Gesundbrunnen und weit in den Prenzlauer Berg. Einige sehen die Brunnenstraße als Mittelachse, andere als westliche, wiederum andere als östliche Grenze. So auch die Edition Gauglitz, die auf ihrem Kiezplan von Berlin 400 Kieze, Viertel und Ortsteile eingezeichnet hat. Hier wird das Gebiet östlich der Brunnenstraße Arkonakiez genannt, der ist bauhistorisch und kulturell jedoch so interessant, dass er eine eigene Folge in dieser Reihe verdient.

Und so konzentriere ich mich diesmal auf die westliche Rosenthaler Vorstadt und orientiere mich an den Grenzen, die der Kiezplan vorschlägt, wenngleich sie – historisch gesehen – mit der Gartenstraße als westlichem Abschluss in die Oranienburger Vorstadt hineinführen. Die nördliche Grenze markiert hier – und da sind sich die Stadtführer weitestgehend einig – die zwischen 1961 und 1989 von der Berliner Mauer gesäumte Bernauer Straße. Am 13. August 1998, dem 37. Jahrestag des Mauerbaus, wurde auf dem 800 Meter langen einstigen Grenzstreifen zwischen der Brunnenstraße und dem Nordbahnhof die Gedenkstätte Berliner Mauer eingeweiht. Während auf der anderen, zum Brunnenviertel zählenden Seite der Bernauer Straße in einem Dokumentationszentrum die historischen Hintergründe der Teilungsgeschichte bis hin zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten kontextualisiert werden, dominiert eine umfangreiche Außenausstellung die zum Ostteil der Stadt zählende Straßenseite: Der Verlauf der Mauer und der Standort eines Grenzbeobachtungsturms wurden aus rostrotem Cortenstahl nachgestaltet – bewusst durchlässig im Gegensatz zu einem 70 Meter langen Stück der Grenzanlage, das im letzten Ausbauzustand erhalten geblieben ist, als Mahnmal des ehemaligen Todesstreifens jedoch von Besucherinnen und Besuchern nicht betreten werden kann.

Mauergedenkstätte Bernauer Straße

Auf den Brandwänden der an den Querstraßen liegenden Gründerzeitbauten erzählen auf Fotos basierende Schwarz-Weiß-Bilder von der Geschichte des Ortes, darunter Peter Leibings weltbekanntes Foto des 19-jährigen Volkspolizisten Conrad Schumann, der am 15. August 1961 über Stacheldraht springend aus der DDR floh. Mit dem Fenster des Gedenkens wird an die 130 Menschen, die als Flüchtlinge oder Unbeteiligte an der Berliner Mauer erschossen wurden oder tödlich verunglückten, erinnert. Im Zwischengeschoss und auf den Bahnsteigen des Nordbahnhofs informieren Bild- und Texttafeln über Grenz- und Geisterbahnhöfe im geteilten Berlin und dokumentieren die Auswirkungen des Mauerbaus auf das Verkehrsnetz der Stadt. Archäologische Fenster zeigen ältere Schichten der Grenzanlagen und Fundamente abgerissener Häuser, Ereignismarken im Boden machen auf besondere Geschehnisse vor Ort aufmerksam. Nachgezeichnet wurde der Grundriss der neogotischen Versöhnungskirche, die am 28. Januar 1985 gesprengt wurde, nachdem sie ein Vierteljahrhundert als unliebsames Symbol der deutschen Teilung ungenutzt und zugemauert im Grenzgebiet stand. Auf den Fundamenten des Chorraums wurde im Jahr 2000 die in Stampflehmbauweise errichtete Kapelle der Versöhnung eingeweiht. Das ovale, mit sieben Meter hohen Holzstäben aus Douglasien ummantelte Gotteshaus gilt als der erste öffentlich gefertigte Lehmbau in Deutschland seit mehr als 100 Jahren. Für die sechzig Zentimeter dicken Wände wurden 390 Tonnen Stampflehm verarbeitet, in dessen Masse auch zermahlener Bauschutt des Vorgängerbaus gemischt wurde.

Bechstein Grab
Wollank Grab

Hinter der Kapelle erstreckt sich der Elisabethkirchhof, der nicht mit Prominentengräbern aufwarten kann, aber trotzdem historisches Flair verbreitet. Schmuckstück ist ein vergoldetes gusseisernes Kreuz, das König Friedrich Wilhelm IV. 1851 gestiftet hat, irritierend ist der Anblick der kopflosen Betenden, die am Erbbegräbnis der Familie Wollank wachen, während sich ein schlichter Plattenbau dahinter emporreckt. Nur durch die Ackerstraße getrennt erstreckt sich in direkter Nachbarschaft der doppelt so große Friedhof der Sophiengemeinde. Die schmuckvolle Grabanlage des Klavierbauers Carl Bechstein findet sich hier ebenso wie der schmale, filigran wirkende Grabstein des Zar-und-Zimmermann-Komponisten Albert Lortzing. Verlässt man den Friedhof über den südlichen Ausgang, gelangt man zum triangelförmigen Pappelplatz, der 1833 angelegt wurde und ursprünglich als Marktplatz diente. An diese Zeit sollte 1912, bei der Neugestaltung des Areals, der Brunnen erinnern, auf dem Ernst Wencks aus Muschelkalk gehauene Monumentalskulptur eines geldzählenden Athleten kniet. Märkte wurden unterdessen nicht mehr nur unter freiem Himmel abgehalten, sondern auch in den 14 Markthallen, die der Berliner Magistrat zwischen 1886 und 1892 für den Einzelhandel errichten ließ. Die sechste Markthalle entstand in unmittelbarer Nähe des Pappelplatzes. Zugänglich ist sie über Kopfbauten in der Invaliden- und der Ackerstraße, letztere gab ihr ihren heute gebräuchlichen Namen. Der von Hermann Blanckenstein errichtete Zweckbau mit klinkerverkleideten Fassaden im Neorenaissancestil beherbergt mittlerweile eine Supermarktkette. Die Ackerhalle ist nicht der einzige Bau im Kiez, der sich hinter Mietshäusern versteckt. Betritt man den Hof in der Bergstraße 22 steht man staunend vor einem schmuckvollen Klinkerbau mit prostenden Fassadenfiguren. Das straßenseitige Mietshaus stand bereits, als das fünfstöckige Gebäude 1890/91 von den Architekten Enders und Hahn für die Brauerei Josty errichtet wurde. Nur ein gutes Jahrzehnt wurde hier mit Erfolg Malzbier produziert, anschließend wurden die Räumlichkeiten als Pferdestall, Wurstfabrik, Motorenwerkstatt und Fahrschule genutzt, heute findet man hier ein Restaurant und Ferienapartments.

Nur wenige Häuser weiter, in der Schröderstraße 5, wartet eine weitere architektonische Überraschung: Das verklinkerte in die Blockrandbebauung eingefasste Haus mit seinen beiden Turmhauben und dem mit einem Wimperg gekrönten Portal lässt eine Verbindung von Wohn- und Kirchennutzung erahnen. Die evangelisch-methodistische Erlöserkirche befindet sich im Quergebäude, das mit dem Vorderhaus eine architektonische Einheit bildet. Errichtet wurde der Komplex 1904/05 von dem Architekten Carl Breuer.

Und noch ein weiteres Gotteshaus befindet sich im Kiez: die 1835 geweihte Elisabethkirche. Sie ist die größte der vier Berliner Vorstadtkirchen, die Karl Friedrich Schinkel in den 1830er-Jahren konzipierte. Im Auftrag Friedrich Wilhelms III. entwarf Schinkel, in jener Zeit Oberbaudirektor des Königreichs Preußen, „zur moralischen Erhebung der Verhältnisse“ einen kostengünstigen Bau ohne Turm nach Vorbild griechischer Tempel. Im Krieg durch Brandbomben zerstört, blieb die Ruine bis 1991 ihrem Schicksal überlassen. Seit ihrer Sanierung wird sie kulturell genutzt. Den Schwerpunkt bilden Aufführungen Alter und Zeitgenössischer Musik, modernes Theater, Musiktheater und Tanz, Kunstausstellungen sowie interdisziplinäre Projekte. Dies gilt auch für die benachbarte Villa Elisabeth, die 1907 durch Adolf Bürckner als Gemeindehaus errichtet wurde. Ein Blick in den Galeriesaal, dessen stuckverzierte Säulen und Bögen eine umlaufende Empore tragen, lohnt.

Elisabethkirche
Stadtbad Mitte

Wer es weniger gediegen mag, der sollte nach dem wohl einzigen nicht sanierten Gebäude im gesamten Kiez Ausschau halten. In den frühen 1990er-Jahren wurde das Haus in der Ackerstraße 169, das einst eine Schokoladenfabrik beherbergte, besetzt und der Schokoladen gegründet, ein alternatives Kulturzentrum mit Kneipe und Liveevents, deren Spannbreite von Reggaekonzerten über Karaokepartys und queeren Punk-Elektronächten bis hin zu Lesungen reicht. Nebenan residiert der Club der polnischen Versager, der sich als Plattform für analoge Kommunikation versteht, wobei solide Polnischkenntnisse erfreulicherweise keine Voraussetzung sind. Im Hinterhof befindet sich der Acker Stadt Palast als Ort für freies Theater, der vor allem den Dialog zwischen Bewegungstheater und zeitgenössischer Musik fördert.

Josty Brauerei

Apropos Förderung: An der Brunnenstraße 188–190 residiert seit 1995 der Kultursenat in einem 1910/11 als Industriehaus Rosenthaler Tor errichteten Geschäftshaus, in dem auch Fabriketagen und Gewerbeeinheiten untergebracht waren. Mit seinen natursteinverkleideten Pfeilern, den eleganten, erkerartigen Ausbuchtungen und den minimalistischen Dekorationen dominiert die imposante Fassade die umliegende Mietshausfronten eindrucksvoll. Ähnlich eindrucksvoll präsentiert sich das 1930 eröffnete Stadtbad in der Gartenstraße. Die Mittel für den Bau stiftete seinerzeit der Kaufmann James Simon, dessen Name dauerhaft mit der Nofretete-Büste verbunden ist, die er 1920 dem Ägyptischen Museum übereignete. Projektiert wurde das Bad im Stil des Neuen Bauens, der Licht, Luft und Sonne vorsah. Mit ihrem 50 Meter langen und 15 Meter breiten Schwimmbecken, dessen 10 Meter hohe Halle durch breite Fensterbänder, die mittels Glasbausteinen an der Decke fortgeführt wurden, reichlich Tageslicht in die Anlage hineinließ, galt die Volksbadeanstalt bei ihrer Einweihung als die modernste Europas.

Einen schönen Blick auf die gläserne Halle des Stadtbads hat man vom Heinrich-Zille-Park, von wo auch die backsteinerne Rückfront der Erlöserkirche zu entdecken ist. Den hölzernen Zille, der auf dem Abenteuerspielplatz herumsteht, interessiert das wenig. Er dreht der sehenswerten Architektur zigarreschmauchend den Rücken zu.

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Marc Lippuner

leitet seit 2017 die WABE, ein Kulturzentrum im Herzen des Prenzlauer Bergs. Nebenbei frönt er mit den von ihm gegründeten Kulturfritzen, einem kleinen Projektbüro für kulturelle Angelegenheiten, seiner Berlinliebe: So hat er eine monatliche Radiosendung bei ALEX Berlin und einen wöchentlichen Podcast. Kürzlich ist sein Kalender Berliner Geschichte 2024 im Elsengold Verlag erschienen.

Für unser Magazin unternimmt er kulturelle Entdeckungsreisen durch Berliner Kieze, empfiehlt eine Handvoll Kulturevents, die man in den kommenden Wochen auf keinen Fall verpassen sollte, und stellt aktuelle Berlinbücher vor

Die Kulturfritzen