Kultur im Kiez entdecken

Text & Fotos: Marc Lippuner

Verglichen mit anderen Kiezen kommt die Gegend rund um die Lützowstraße erst einmal ziemlich langweilig daher. Wenn man jedoch hinter die austauschbaren Beton- und Glasfassaden der 70er-Jahre-Bauten schaut, tun sich interessante kulturelle Welten auf.

Dass wir heute das Lützow-Viertel genauer anschauen, ist einem Buch zu verdanken, das vor einiger Zeit bei uns in der Redaktion landete. Paul Enck und Sibylle Klosterhalfen erzählen die „Geschichte und Geschichten aus dem Berliner Lützow-Kiez“, indem sie jede einzelne Straße betrachten, die sich nördlich und südlich der Lützowstraße zwischen Landwehrkanal und Kurfürstenstraße befindet oder befand. Gemeinhin wird, bei selbiger Nord-Süd-Begrenzung, der Lützowplatz als westlicher, der Magdeburger Platz bereits als östlicher Rand des Viertels definiert, Enck und Klosterhalfen nehmen jedoch noch das sich östlich anschließende Areal dazu, das nicht nur im Kiezplan der Edition Gauglitz als „Potse“ bekannt ist und bis zum Park am Gleisdreieck reicht.

Haus Fromberg,
Kurfürstenstraße 132
Villa Roßmann (Stammhaus Café Einstein),
Kurfürstenstraße 58

Wenn Enck und Klosterhalfen heute durch die Straßen flanieren, sehen sie, mit dem Wissen um die historische Bebauung, an allen Ecken Villen und Häuser, die es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gibt. Tatsächlich prägen das Viertel gesichtslose Wohn- und Geschäftsbauten, die seit den 1970er-Jahren entstanden sind. Doch zwischen diesen recht langweiligen Beton- und Glasfassaden entdeckt man immer wieder Mietshäuser aus Gründerzeiten und – was besonders schön ist – einige architektonisch auffällige Stadtvillen wie das 1897 fertig gestellte Haus Fromberg mit seinen asymmetrisch verteilten Giebeln, Erkern und Balkonen, das an englische Landhäuser erinnert, oder die gegenüber liegende Villa Roßmann, die ein Jahrzehnt früher im Neorenaissancestil errichtet wurde und seit nunmehr 44 Jahren das Stammhaus des Café Einstein ist. Zurzeit wird die Villa, in der der Stummfilmstar Henny Porten gelebt haben soll, denkmalgerecht saniert, sodass ihr das Schicksal erspart bleibt, was der danebenliegenden Villa Schwatlo widerfahren ist.

Mercator-Höfe, Potsdamer Str. 77-87
Villa Schwatlo, Kurfürstenstraße 57

Der 1869/70 entstandene gelbe Backsteinbau, der wie eine Miniaturausgabe historischer Berliner Kopfbahnhöfe anmutete, bekam 1938 ein nationalsozialistisches Makeover mit gleichförmigen Fenstern und grauer Kalksteinverkleidung. Das Haus war längere Zeit Standesamt des Bezirks Tiergarten, heute hat hier die Produktionsfirma X Filme ihren Sitz. Kleinere historische Bauensembles, die einen guten Eindruck davon vermitteln, wie es hier im Kiez früher einmal ausgesehen hat, findet man, wenn man sich durch die überbauten Toreinfahrten der Neubauten traut – so beispielsweise in den verwunschenen Begaswinkel in der Genthiner Straße 33 oder in die heute sogenannten Mercator-Höfe an der Potsdamer Straße. Hier wohnte zur Jahrhundertwende der Historienmaler Anton von Werner in direkter Nachbarschaft zum avantgardistischen Gurlitt-Kunstverlag, der am Standort auch eine Galerie unterhielt.

Mittlerweile sind hier wieder kommerzielle Galerien beheimatet. Überhaupt haben zahlreiche Galeristinnen und Galeristen im Kiez ein Zuhause gefunden, nicht nur auf der Potsdamer Straße, sondern auch in der Kurfürstenstraße, in der Pohlstraße oder am Schöneberger Ufer. Auch das Schwule Museum (SMU) ist vor einigen Jahren ins Lützow-Viertel gezogen. 1985 wurde es gegründet, „um der Geschichte und Kultur schwuler Männer und ihrer Emanzipationsbewegung, ihren von den Museen und Archiven der Mehrheitsgesellschaft abgewerteten und ausgeschlossenen Geschichte(n), künstlerischen Werken, Lebenszeugnissen und Bewegungsdokumenten eine Heimat zu geben“. Es residierte viele Jahre am Mehringdamm, bis es 2013 seine derzeitigen Räumlichkeiten bezog. Heute ist es „das international wichtigste Kompetenzzentrum für die Erforschung, Bewahrung und Präsentation der Kultur und Geschichte queerer Menschen und sexueller und geschlechtlicher Vielfalt“. Neben regelmäßig wechselnden Ausstellungen gibt es ein eigenes Archiv und eine umfangreiche Bibliothek. Auf der anderen Straßenseite weist ein riesiges Wandbild auf die Pumpe hin, ein von der Arbeiterwohlfahrt betriebenes Jugendkulturzentrum, das in Nebengebäuden des 1883 für fast 100 Jahre in Betrieb genommenen Pumpwerks VII zahlreiche künstlerische Mitmachangebote für Kinder und Jugendliche bereithält.

Das sanierte Hauptgebäude, Alte Pumpe genannt, wird als Eventlocation für Kulturveranstaltungen, Konferenzen oder Privatfeiern betrieben. Nur 400 Meter entfernt wurde bereits 1950 in einem vom Abriss bedrohten Haus am Lützowplatz ein Kulturzentrum eröffnet, das in den Folgejahren weithin beachtete Ausstellungen, unter anderem mit Werken von Vincent van Gogh, Oskar Kokoschka, Marc Chagall oder Paula Modersohn-Becker zeigte. Seit 1960 wird das Haus am Lützowplatz (HaL) von einem Verein getragen, in dessen Satzung seit Anbeginn „die Präsentation von zeitgenössischer bildender Kunst als Brückenschlag zur politischen und gesellschaftlichen Realität“ als Auftrag festgeschrieben ist.

Wer die Ausstellungsräume aufsucht, sollte unbedingt auch die winzige, aber äußerst inspirierende Studio-Galerie im Garten wahrnehmen. Das Ausstellungs- und Veranstaltungsprogramm wird hauptsächlich aus dem Gebäudemanagement finanziert. Die Kulturstiftung der Länder und die des Bundes, der Bund deutscher Amateurtheater, das Bauhaus-Archiv oder der Fonds Darstellende Künste unterhalten in den oberen Etagen Büros, im Souterrain residiert der Club Trompete. Die skulpturale Eingangssituation des Hauses am Lützowplatz 9 gestaltete der Bildhauer Volkmar Haase vor 35 Jahren, seit 2016 schmücken farbige Parolen von Christian Jankowski die Fassade.

Recht schmucklos hingegen kommt der Lützowplatz daher. Vor 120 Jahren wurde hier der dreietagige, im Durchmesser 20 Meter fassende Herkulesbrunnen eingeweiht. Heute stehen auf der schlichten grünen Wiese uninspiriert verstreut einige Skulpturen, darunter Louis Tuaillons 1937 gegossene Bronzedarstellung des Herkules mit dem erymanthischen Eber, die wohl als Referenz an den im Weltkrieg zerstörten Brunnen dienen soll.

Den Krieg unbeschadet überstanden hat der vermutlich bekannteste Kulturort im Lützow-Viertel, auch wenn er aufgrund umfangreicher Umbauarbeiten kaum noch historische Substanz aufweist. 1913 wurden an der Potsdamer Straße die Biophon Theater Lichtspiele im Erdgeschoss eines Wohnhauses eingerichtet. Bis 1967 flimmerten Filme über die Leinwand, anschließend wurde das Kino in eine Vergnügungsstätte umgewandelt. 1972 öffnete das Quartier Latin hier seine Pforten, ein Konzert-Veranstaltungsort, in dem sich angesagte Musiker und Musikerinnen, darunter Ton Steine Scherben, Herbert Grönemeyer, Nina Hagen und Philipp Boa mehr als 18 Jahre lang die Klinke in die Hand gaben.

1992 gelang es, mit der Wiederbelebung des legendären Wintergartens, der einst in der Friedrichstraße zu Hause war, dem Kulturort an der Potsdamer Straße ein neues Gesicht zu geben. Mit seinen aufwändigen Varieté-Shows, die weitestgehend ohne Worte auskommen, erreicht der Wintergarten seit über 30 Jahren auch internationales Publikum, das sicher nicht nur über das künstlerische Programm, sondern auch über die spektakulären Toiletten und Waschräume zu erzählen weiß.

Haus am Lützowplatz, Lützowplatz 9
Wintergarten, Potsdamer Straße 96

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Marc Lippuner

leitet seit 2017 die WABE, ein Kulturzentrum im Herzen des Prenzlauer Bergs. Nebenbei frönt er mit den von ihm gegründeten Kulturfritzen, einem kleinen Projektbüro für kulturelle Angelegenheiten, seiner Berlinliebe: So hat er eine monatliche Radiosendung bei ALEX Berlin und einen wöchentlichen Podcast. Kürzlich ist sein Kalender Berliner Geschichte 2024 im Elsengold Verlag erschienen.

Für unser Magazin unternimmt er kulturelle Entdeckungsreisen durch Berliner Kieze, empfiehlt eine Handvoll Kulturevents, die man in den kommenden Wochen auf keinen Fall verpassen sollte, und stellt aktuelle Berlinbücher vor

Die Kulturfritzen