Kultur im Kiez entdecken

Der Helmholtzkiez zählt zu den städtebaulich und historisch vielschichtigen Quartieren in Prenzlauer Berg – ein Wohnviertel, dessen Architektur die soziale und kulturelle Entwicklung Berlins seit der Gründerzeit widerspiegelt.

Text & Fotos: Marc Lippuner

Der Kiezplan der Edition Gauglitz begrenzt den Helmholtzkiez durch die Ringbahntrasse im Norden, die Prenzlauer Allee im Osten, die Danziger Straße im Süden und die Pappelallee im Westen. (Andere Quellen sehen die westliche Grenze erst an der Schönhauser Allee. Da es in dem Dreieck zwischen den beiden zuletzt genannten Straßen jedoch so viel zu entdecken gibt, das es für einen eigenen Beitrag reicht, flanieren wir diesmal nicht über die Pappelallee hinaus.)

Im Zentrum des Kiezes befindet sich der Helmholtzplatz, eine gärtnerische Schmuckanlage, die Ende des 19. Jahrhunderts auf den Fundamenten einer gesprengten Ringofen-Ziegelei angelegt wurde. Der 240 Meter lange und 70 Meter breite Park dient bis heute als Erholungsfläche für die Bewohnerinnen und Bewohner der umliegenden Häuser, die zum Großteil ab den 1890er-Jahren errichtet wurden. Darunter auch das nur wenige Meter entfernte Haus in der Dunckerstraße 77. 1895 kaufte der Zimmermeister Heinrich Brunzel die Parzelle und begann sofort mit den Bauarbeiten für ein mehrstöckiges Wohnhaus, dessen späterer Verkauf oder Vermietung ihm die Möglichkeit bieten sollte, hohe Gewinne zu erzielen. Ein Traum, der unerfüllt blieb, da Brunzel die horrenden Hypotheken nicht bedienen konnte, die er aufgenommen hatte, sodass das Haus nur wenige Monate nach der Fertigstellung zwangsversteigert wurde. Brunzels Geschichte wird seit 2003 in der Beletage-Wohnung des von ihm errichteten Hauses erzählt. Die ehrenamtlich betreute Museumswohnung, bestehend aus guter Stube, Schlafkammer und Küche, zeigt, wie die arbeitende Mittelschicht um 1900 eingerichtet war und erläutert auf Schautafeln die damaligen Lebens- und Arbeitsumstände rund um den Helmholtzplatz, der 1897 nach dem drei Jahre zuvor verstorbenen Universalgelehrten Hermann von Helmholtz (1821–1894) benannt wurde, dem „Reichskanzler der Physik“, der wichtige Beiträge zur mathematischen Theorie der Optik, Akustik sowie der Elektro-, Thermo- und Hydrodynamik lieferte. Ihm verdanken wir die Dreifarbentheorie, die finale Ausformulierung des Energieerhaltungsgesetzes und den Augenspiegel, der die Augenheilkunde Mitte des 19. Jahrhunderts revolutionierte.

1928 wurde auf der Osthälfte des Helmholtzplatzes ein Trafohaus mit Sitzbereich und Wetterschutz errichtet, das heute als Café genutzt wird. 1976 kam eine öffentliche Bedürfnisanstalt hinzu, die in den 1990er-Jahren zu einem Nachbarschaftshaus umfunktioniert wurde. Das sogenannte Platzhaus bietet regelmäßige Veranstaltungen an, wie Nachbarschaftsmusik, Keramikkurse, Tanzunterricht, Filmabende, Kleider- oder Pflanzentauschmärkte, kann aber auch für private Veranstaltungen gemietet werden. Die Westhälfte des dichtbegrünten Platzes dominieren Spielplätze und Sportanlagen. Ein gepflasterter breiter Weg – der den nördlichen und den südlichen Teil der Schliemannstraße verbindet, teilt den Helmholtzplatz, der westlich von der Lychener und östlich von der Dunckerstraße begrenzt wird, optisch in zwei Hälften. Aufgrund der Anfangsbuchstaben der drei eben genannten Straßen wird das Wohngebiet rund um den Platz auch als LSD-Viertel bezeichnet, wenngleich – in Anbetracht der Café-Dichte – die meistkonsumierte „Droge“ wohl Koffein sein dürfte.

2005 drehte Andreas Dresen hier seinen Film Sommer vorm Balkon. Den Balkon, der zur Wohnung der von Nadja Uhl gespielten Nike Pawelsky gehört, findet man am südöstlichen Eck des Helmholtzplatzes (Raumer-, Ecke Dunckerstraße), das Haus ist mittlerweile saniert. Die von dort aus sichtbare Apotheke, deren Inhaber Nike und ihre Freundin Katrin (Inka Friedrich) an lauen Sommerabenden Telefonstreiche spielen, hat sich hingegen nicht verändert.

Nur wenige Meter entfernt, im sogenannten Göhrener Ei, einer halbrunden Ausbuchtung im Knick der Göhrener Straße, steht das von Otto Werner zwischen 1926 und 1928 gebaute, expressionistisch anmutende Elias-Gemeindehaus. Im Hof versteckt sich ein architektonisches Kleinod: ein als Konzert- und Theatersaal errichteter Kuppelsaal, der von der Gemeinde Prenzlauer Berg Nord als Gottesdienstraum genutzt wird. 2001 hat die evangelische Kirchengemeinde ihr 1910 geweihtes Gotteshaus aufgeben müssen, da sie die Kosten der notwendigen Sanierung nicht tragen konnte. Die neogotische von Gustav Werner und Fritz Förster entworfene, in die Häuserflucht der Senefelderstraße eingefügte Kirche, ist seit 2003 Heimat des MACHmit!-Kindermuseums, das zehn Jahre zuvor seine pädagogische Arbeit in einem mobilen Bauwagen startete. Es präsentiert interaktive Ausstellungen, die von, für und mit Kindern entwickelt werden, und lädt dank eines ausstellungsrelevanten, abwechslungsreichen Kreativangebots zu wiederholten Besuchen ein.

Mit knapp 54 Metern ist der Turm der Eliaskirche der höchste im Kiez, der quadratische Turm des Käthe-Kollwitz-Gymnasiums mit seinem achteckigen Uhrengeschoss dürfte der zweithöchste sein. Zur Jahrhundertwende wurde das Gebäudeensemble nach einem Entwurf von Stadtbaurat Ludwig Hoffmann an der Ringbahntrasse im Stil dänischer Renaissance errichtet, zunächst als Gemeindeschule für Knaben mit einem Rektorenwohnhaus, in dem – wie zu jener Zeit üblich – eine Volkslesehalle eingerichtet wurde, die jährlich 120 000 Besucherinnen und Besucher aus der näheren Umgebung zählte, bis sie von den Nationalsozialisten geschlossen wurde.

Die Nationalsozialisten lösten 1934 auch die Freireligiöse Gemeinde Berlins auf. Sie war 1845 von Dissidenten gegründet worden, die dem vatikanischen Katholizismus den Rücken gekehrt hatten, um sich gegen den Reliquienkult und für allgemeine humanistische Ideale einzusetzen. 1848 eröffneten sie auf einem 6000 m² großen Gelände zwischen Pappelallee und Lychener Straße einen eigenen Friedhof. Dass ihre Mitglieder in der Tradition der Aufklärung standen, zeigt der parkseitig über dem Eingangsportal angebrachte Leitspruch „Schafft hier das Leben gut und schön, kein Jenseits ist, kein Aufersteh’n.“ Zu Grabe getragen wurden hier sozialdemokratische Abgeordnete wie Theodor Metzner und Wilhelm Hasenclever oder die Frauenrechtlerin Agnes Wabnitz. 1936, zwei Jahre nach dem Verbot des freireligiösen Bundes, wurde der Friedhof verstaatlicht. Auch die DDR-Regierung ließ eine Wiedergründung der Gemeinde nicht zu. Die 1907 von Otto Trewendt errichtete große Feierhalle wurde seit 1946 gastronomisch genutzt, unter anderem als Casino der Handwerker, heute ist sie die Bühne des Ballhaus Ost, das hier seit 2006 beheimatet ist und zu den wichtigsten Produktions- und Spielstätten für freie Theater- und Kunstprojekte in Berlin zählt.

Friedhofspark Pappelallee mit Grab Heinrich Roller

Nachdem 1969 auf dem Friedhof die letzte Beisetzung stattfand, wurde er acht Jahre später durch den Ostberliner Magistrat zum Kulturdenkmal erklärt und im Jahr vor dem Mauerfall, noch ehe die Ruhefristen abliefen, als Parkgelände freigegeben. Im Zuge der Umgestaltung zum Friedhofspark Pappelallee, der im März vor 30 Jahren offiziell eröffnet wurde, wurden 35 Begräbnisstätten restauriert, darunter das Grabmal des Schriftstellers und Humoristen Heinrich Roller, der jedoch eher als Begründer eines deutschen Stenografiesystems in die Geschichte einging. Auf seine Leistung verweist die dem Grabstein zugewandte von Heinrich Pohlmann geschaffene Skulptur einer Schreiberin.


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Marc Lippuner

leitet seit 2017 die WABE, ein Kulturzentrum im Herzen des Prenzlauer Bergs. Nebenbei frönt er mit den von ihm gegründeten Kulturfritzen, einem kleinen Projektbüro für kulturelle Angelegenheiten, seiner Berlinliebe: So hat er eine monatliche Radiosendung bei ALEX Berlin und einen wöchentlichen Podcast. Kürzlich ist sein Kalender Berliner Geschichte 2024 im Elsengold Verlag erschienen.

Für unser Magazin unternimmt er kulturelle Entdeckungsreisen durch Berliner Kieze, empfiehlt eine Handvoll Kulturevents, die man in den kommenden Wochen auf keinen Fall verpassen sollte, und stellt aktuelle Berlinbücher vor

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