Kultur im Kiez entdecken

Nachdem wir im letzten Beitrag den Nordosten Weißensees erkundet haben, schauen wir diesmal, was der Südwesten des Ortsteils kulturell zu bieten hat.

Text & Fotos: Marc Lippuner

Der Spaziergang beginnt, wo die Ortsteile Prenzlauer Berg und Pankow auf Weißensee treffen, an der sogenannten Weißenseer Spitze. Hier entdeckt man die orangefarbene Fassade der 1914 errichteten Brotfabrik, die seit 1986 kulturell genutzt wird und heute unter dem Motto „Kunst ist Lebensmittel“ ein Kino, eine Bühne, eine Galerie, ein Inklusiv-Atelier sowie gastronomische Einrichtungen unterhält. Der Platz vor der Brotfabrik heißt seit 2002 Caligariplatz, die Kombination aus dem Namen und einer Pflasterung in schwarz-weißem Schachbrettmuster verweist auf die Historie des Ortsteils als Filmstadt – nicht weit von hier, nördlich des Weißen Sees, entstand 1920 der berühmte expressionistische Stummfilm Das Cabinet des Dr. Caligari. Dass dieser Meilenstein der Filmgeschichte seinerzeit im Stummfilmkino Delphi gezeigt wurde, kann ausgeschlossen werden, öffnete dieses doch erst 1929 seine Pforten. Die Brotfabrik im Rücken muss man ganz genau hinschauen, damit man das Delphi nicht übersieht: Die unscheinbare, grauverputzte, nahezu fensterlose Fassade des Hauses in der Gustav-Adolf-Straße 2 lässt nichts von der Pracht erahnen, die sich im Inneren auftut. Das von Julius Krost und Heinrich Zindel ausgestattete Gebäude hatte einst 900 Sitzplätze, einen Orchestergraben für 12 Personen und einen Vorhang aus Raupenseide. Im Krieg nur leicht beschädigt, musste das Kino 1959 wegen Baufälligkeit schließen und wurde fortan als Gemüselager, Wäschereistützpunkt, Briefmarkenladen und Schauraum für Orgeln genutzt. 2011 wiederentdeckt, ist der Saal heute als Theater im Delphi ein außergewöhnlicher Aufführungsort für Theater-, Tanz- und Musikproduktionen, der dank der Fernsehproduktion Babylon Berlin weltbekannt wurde. Hier entstanden die Partyszenen, die im legendären Moka Efti spielen.

Kino Toni am Antonplatz
Bühne des Theaters im Delphi

Direkt um die Ecke, in der Lehderstraße 60, eröffnete der Künstler Thomas Maschner vor 15 Jahren sein Galerie-Café Emma T., in dem in monatlich wechselnden Ausstellungen zeitgenössische Malerei und Fotografie, aber auch plastische Arbeiten von Künstlerinnen und Künstlern aus aller Welt sowie der unmittelbaren Nachbarschaft gezeigt werden. Gelegentlich finden hier auch Kleinkunstveranstaltungen statt. Folgt man der Lehderstraße bis zur nächsten Kreuzung, entdeckt man ein Gewerbegebiet, das sich über drei Querstraßen erstreckt. Die Ruthenbergschen Höfe entstanden rund um zwei Fabrikgebäude in der Lehderstraße 16‒19. 1898 verlagerte Carl Ruthenberg seine Goldleistenfabrik mit 180 Arbeitsplätzen hierher, nachdem er den ursprünglichen Produktionsstandort in der Stralauer Vorstadt aufgrund steigender Immobilienpreise aufgeben musste. In den folgenden zehn Jahren baute er in direkter Nachbarschaft 22 Höfe mit eingeschossigen Fabrikhallen und Werkstätten, die zur Straße hin durch breite Toreinfahrten flankierende, zweistöckige Kopfbauten aus Backstein abgeschlossen wurden. Ruthenberg schuf hier Platz für kleine und mittlere Gewerbetreibende, die sich die Mieten in der Innenstadt ebenfalls nicht mehr leisten konnten, wodurch sich das Gebiet innerhalb kürzester Zeit zu einem attraktiven Produktionsstandort für Kleinunternehmer entwickelte. Nach der Eingemeindung Weißensees im Jahr 1920 wurde das Areal in die Bebauungspläne Groß-Berlins integriert, sodass die Errichtung zahlreicher Wohnblöcke in den Folgejahren den pittoresken Gesamteindruck des Bauensembles leider beeinträchtigt. In der Goldleistenfabrik lebte der Gedanke des Gründers viele Jahre weiter, dank drastischer Mieterhöhungen wird dieses Atelierhaus – wie so viele andere in Berlin – bald Geschichte sein. Bis heute sind in den Ruthenbergschen Höfen Handwerksbetriebe und Industriegewerbe untergebracht, aber auch Ateliers und Galerien haben hier ein Zuhause gefunden, zum Beispiel im Steinmetzhof in der Lehderstraße 74-79. Hier findet man neben zahlreichen Ateliers und Kunstwerkstätten auch den Kühlspot Social Club, der regelmäßig Jazzkonzerte veranstaltet. Schräg gegenüber, auf der anderen Straßenseite, unterhält die Theater-Company Familie Floez, bekannt für ihre Aufführungen mit Masken, ein Studio für Workshops und Proben, in dem gelegentlich auch Präsentationen stattfinden.


Ruthenbergsche Höfe
St. Josef-Kirche im Fenster
der Ostkreuzschule

Nur einen Hof weiter hat der Künstler Jonas Burgert sein Ateliergelände, auf dem ein betongegossener Swimmingpool einen modernen Kontrast zu den alten Backsteingebäuden der ehemaligen Halbleiterfabrik darstellt. Der Hof ist nicht öffentlich zugänglich, im Rahmen des Gallery Weekends fanden hier jedoch schon gelegentlich Gruppenausstellungen statt. An jenen Tagen gelangte man von hier auch in die Galerie Sexauer, deren Haupteingang in der Streustraße 90 liegt. Seit zehn Jahren zeigt Jan-Philipp Sexauer in einer großen Ausstellungshalle junge, aufstrebende, internationale Positionen verschiedener Medien. Auf der anderen Seite der Streustraße steht das Atelierhaus des gemeinnützigen Vereins culturLAWINE. Auf 300 Quadratmetern bietet er im Weißensee Studio technische und künstlerische Möglichkeiten für kreative und kommunikative Projekte. Die Straßen, die nördlich von den Ruthenbergschen Gewerbehöfen liegen, sind von gründerzeitlicher Wohnbebauung geprägt. Doch auch hier findet man vereinzelt Kulturorte. In der Charlottenburger Straße 117 steht das Kinder- und Jugendkulturzentrum Maxim, das zahlreiche offene Freizeitangebote bereithält, darüber hinaus aber auch Konzerte, Ausstellungen, Kiezfeste und Sozialkulturmärkte organisiert. Soziokulturell geht es auch in Sepp Meiers 2raumwohnung zu: Seit 2008 finden in der Langhansstraße 19 regelmäßig Konzerte, Theateraufführungen und Ausstellungen statt. Von hier ist es nur ein Katzensprung in die Behaimstraße. In dem Neubau der Nummer 34 befindet sich die private Ostkreuzschule für Fotografie, die seit 2004 in einer dreieinhalbjährigen Ausbildung den gestalterischen Umgangs mit analoger und digitaler Fotografie lehrt. In der großen Scheibe über dem Eingang der Schule spiegelt sich die katholische St.-Josef-Kirche, ein 1899 geweihter klinkerverblendeter Bau mit spätgotischen Formen und 56 Meter hohem Turm, der einen kreuzförmigen Grundriss hat und über Giebel verfügt, die in alle vier Himmelsrichtungen weisen. Ein Pfarr- und Gemeindehaus sowie ein angegliedertes Schulgebäude ergänzen das Bauwerk.

Jüdischer Friedhof
Pavillon am Solonplatz


Folgt man der Langhansstraße zum östlichen Ende, gelangt man zum Antonplatz. In den 1920er-Jahren gab es hier sieben Lichtspielhäuser, einzig das Arthouse-Kino Toni ist geblieben. 1920 wurde es als Decla-Lichtspiele eröffnet und bis zum Kriegsende als UFA-Theaterweitergeführt. Bis 1979 blieb es als letztes privat betriebenes Kino Ost-Berlins verpachtet, 1992 wurde es von dem Regisseur Michael Verhoeven erworben, der mit dem Tonino einen zweiten Kinosaal einbauen ließ. 2017 verkaufte er das Haus und verpflichtete die neuen Betreiber, die beiden Säle weitere zehn Jahre als Kino zu betreiben. Von der anderen Seite der Berliner Allee ist es nicht weit bis zum Jüdischen Friedhof führt. Der 1880 angelegte Begräbnisplatz ist mit 42 Hektar der flächenmäßig größte erhaltene jüdische Friedhof Europas. Direkt am Eingangsbereich steht ein im Stil der italienischen Neorenaissance aus gelben Ziegeln erbautes Gebäudeensemble, in dem die Friedhofsverwaltung, das Archiv, das Taharahaus sowie die Trauerhalle untergebracht sind. Direkt davor erinnert ein Rondell mit einem kreisförmigen Gedenkstein an die sechs Millionen Opfer des Holocausts. Nahezu 160 000 Grabstellen fasst der Friedhof, zahlreiche prominente Persönlichkeiten liegen hier begraben, u. a. Samuel Fischer, der Gründer des S. Fischer Verlags, die Warenhausbesitzer Hermann und Oscar Tietz, der Zigarettenfabrikant Josef Garbáty, der Maler Lesser Ury, der Schriftsteller Stefan Heym, die Autorin Angelika Schrobsdorff und der Widerstandskämpfer Herbert Baum, an dessen Grab eine Gedenktafel an die Getöteten der von ihm gegründeten Widerstands-Gruppe erinnert. Seit 1951 trägt die zum Haupteingang führende Straße seinen Namen. Im selben Zuge wurde aus dem ab 1872 angelegten Französischen Viertel, in dem die Straßennamen an Festungen und Schlachten auf französischem Staatsgebiet erinnerten, zum Komponistenviertel. Mittendrin, wo nun Bizet, Meyerbeer, Gounod und Smetana geehrt werden, trägt bereits seit 1947 ein kleiner, begrünter Platz den Namen des griechischen Staatsmanns und Dichters Solon. Hier wurde Ende der 1920er-Jahre eine unterirdische Trafostation mit darüber liegendem Pavillon errichtet, der mit seinen rot verschachtelten Ziegeln die Fassadengestaltung der schräg gegenüber liegenden, von Franz Fedler entworfenen Wohnanlage aufgreift. An der Nordseite des Platzes stehen seit 1980 zwei sich umarmende Orang-Utan-Kinder, eine Bronzeskulptur des Bildhauers Stephan Horota, dessen Tierskulpturen im Berliner Stadtraum vielerorts zu finden sind.

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Marc Lippuner

leitet seit 2017 die WABE, ein Kulturzentrum im Herzen des Prenzlauer Bergs. Nebenbei frönt er mit den von ihm gegründeten Kulturfritzen, einem kleinen Projektbüro für kulturelle Angelegenheiten, seiner Berlinliebe: So hat er eine monatliche Radiosendung bei ALEX Berlin und einen wöchentlichen Podcast. Kürzlich ist sein Kalender Berliner Geschichte 2024 im Elsengold Verlag erschienen.

Für unser Magazin unternimmt er kulturelle Entdeckungsreisen durch Berliner Kieze, empfiehlt eine Handvoll Kulturevents, die man in den kommenden Wochen auf keinen Fall verpassen sollte, und stellt aktuelle Berlinbücher vor

Die Kulturfritzen