Zwischen 1952 und 1976 entstand im Norden Wittenaus die größte Siedlung der französischen Alliierten – mit französischen Straßennamen und blauen Straßenschildern. Heute ist von französischem Flair nur noch wenig zu spüren, die verstreut angelegten Wohnhäuser könnten auch zu der Arbeitersiedlung einer brandenburgischen Kleinstadt gehören. Nichtsdestotrotz ist die Cité Foch historisch und architektonisch sehr interessant. Wer hier jedoch Kultur sucht, müsste einige Jahrzehnte in die Vergangenheit zurückreisen. Oder er schaut sich am Rande des Wohnquartiers ein bisschen genauer um.

Kultur im Kiez entdecken

Text und Fotos: Marc Lippuner

In den 1950er-Jahren begannen die französischen Streitkräfte für sich und ihre Angehörigen in Wittenau, südlich des S-Bahnhofs Waidmannslust, eine kleine Stadt zu errichten, die sich innerhalb eines Vierteljahrhunderts zum größten der französischen Wohngebiete innerhalb Berlins entwickeln sollte. Bereits im Sommer 1945 hatten die französischen Einheiten das Gelände, auf dem hölzerne Baracken und ein Heizkraftwerk standen, als Notbehelf bezogen und Camp Foch getauft, zu Ehren Ferdinand Fochs, des französischen Marschalls, in dessen Eisenbahnwaggon die Vertreter des Deutschen Reiches am 11. November 1918 den Waffenstillstand von Compiègne unterzeichnet hatten.


Ursprünglich befand sich hier das Lager einer Maschinenfabrik, das von den Nationalsozialisten als Luftwaffen-Militärakademie und Lazarett genutzt wurde. 1952 wurden die einfachen Holzunterkünfte abgerissen und erste massive Wohnbauten entstanden. Bis 1976 wurden auf den 47 Hektar zwischen der Nordbahntrasse und dem Steinbergpark mehr als siebzig Wohnhäuser errichtet, zuerst mit vier, später auch mit sechs Stockwerken. In den 785 Wohnungen, von denen die größten sieben Zimmer hatten und über 200 Quadratmeter groß waren, lebten bis zu 2 600 Menschen. Da sich auf dem Gelände auch ein Hörfunksender befand, der militärischen Zwecken diente, war die Siedlung, die den Namen Cité Foch erhielt, als einzige der französischen Wohnquartiere nicht frei zugänglich. Neben den Wohnbauten entstanden auch zahlreiche zivile Einrichtungen, darunter Schulen wie die École La Fontaine im Jahr 1959, die École Voltaire, die in der Zeit von 1960 bis 1964 errichtet wurde sowie die École Victor Hugo, die Ende der 1960er-Jahre hinzukam. Ein Kindergarten, benannt nach dem Autor des kleinen Prinzen, Antoine de Saint-Exupéry, folgte. 1977 wurde ein großes Einkaufs- und Mehrzweckgebäude errichtet, dessen Architektur die gestalterische Nähe zum Steglitzer Bierpinsel, zum Flughafen Tegel oder der Silberlaube der FU Berlin nicht verleugnen konnte. Hier eröffnete auch ein Kino, das Le Flambeau, nebenan entstand im gleichen Stil eine römisch-katholische Kirche, benannt nach Sainte Geneviève, mit einem 20 Meter langen und sechs Meter hohen, aus 128 einzelnen Elementen bestehenden abstrakten Glasbild des Künstler Johannes Beeck, das die Längswand des Andachtsraumes bildete. Ein weiteres monumentales Wandbild wurde 1972 mit der Eröffnung der Schwimmhalle, dem sogenannten Franzosenbad, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht: Susanne Riée hatte hierfür einen 60 Meter langen Keramikfries entworfen.

1994 verließen die Franzosen Berlin, zurück ließen sie ihre blauen Straßenschilder, die bis heute Erkennungszeichen der Cité Foch sind. Die Wohnhäuser fielen der Stadt zu, die erst einmal Schwierigkeiten hatte, die Wohnungen zu vermieten. Zum einen waren sie mit vom Badezimmer separierten Toiletten und großen Salons, die Wohn- und Esszimmer kombinierten, für deutsche Verhältnisse ungewöhnlich geschnitten, andererseits für eine Durchschnittsfamilie zu groß und damit auch zu teuer. Um die Jahrtausendwende begannen umfassende Sanierungsarbeiten, woraufhin der Leerstand in den folgenden Jahren deutlich minimiert werden konnte.

Der Niedergang des öffentlichen Lebens in der Cité Foch konnte dadurch jedoch nicht aufgehalten werden. 2002 schloss das 30 Jahre alte Hallenbad, weil die Berliner Bäderbetriebe die Reparaturkosten nicht mehr stemmen konnten. Über einen Rückbau wurde seit langem diskutiert, nun stehen Abrissbagger auf dem großflächig abgesperrten Gelände, um über kurz oder lang wohl Platz zu schaffen für Wohnungsneubauten, die in der Stadt dringend gebraucht werden. Ob der Keramikfries gerettet werden wird wie Johannes Beecks gläserne Kirchenwand? Denn auch die Kirche steht nicht mehr.

Sie wurde 2016 abgerissen, ebenso wie das Einkaufszentrum, das so etwas wie das gesellschaftliche Herz der Cité Foch war. 2006, vier Jahre nach dem Hallenbad, wurde es dicht gemacht und nach zehnjährigem Leerstand und von vielen Hobbyfotograf:innen eindrucksvoll dokumentiertem Verfall, beseitigt. Beecks Glasbild übereignete der Eigentümer im Zuge des Abrisses dem Bezirk Reinickendorf, der es eingelagert hat, ohne konkrete Pläne, es wieder der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dort, wo das Mehrzweckgebäude und die Kirche standen, wurden in den letzten Jahren mehrere hundert Wohnungen in gediegenen, hochpreisigen Wohnanlagen errichtet, wie sie derzeit überall in Berlin aus dem Boden wachsen. Die Cité Foch ist mittlerweile eine reine Wohnstadt, in der kulturelle oder gesellschaftliche Aktivitäten keinen Platz mehr haben. Der Kindergarten wurde zur Filiale einer nahegelegenen Grundschule, die nach Victor Hugo benannte Elementarschule ist nun ein Gymnasium mit französischem Schwerpunkt. Schlecht ist es um das Gebäude des Collège Voltaire bestellt: Nachdem die Schule 2011 ihren Sitz nach Tiergarten verlegt hat, wurde hier ein Pilotprojekt zur „Bewachung durch Bewohnung“ eingerichtet, um einer Verwahrlosung vorzubeugen, ab 2015 fungierte der Bau für längere Zeit als Notunterkunft, in der mehr als 300 Menschen unterschiedlicher Herkunft ein temporäres Zuhause fanden. Mittlerweile ist das Gebäude mit seinem glasbausteinverzierten, trapezförmigen Eingang dem Verfall preisgegeben.

Direkt hinter dem verlassenen Gebäude erstreckt sich eine feuchte Wiese, die den poetischen Namen Rosentreterbecken trägt. Es handelt sich hierbei um ein Niedermoor, in dem vom Aussterben bedrohte Arten wie das Sumpf-Herzblatt oder Knabenkräuter, violett blühende Orchideenpflanzen, wachsen. So hat diese unscheinbare, wenig einladend wirkende Fläche eine herausragende Bedeutung für den Berliner Florenschutz und die biologische Vielfalt. Wesentlich einladender wirkt der dahinter liegende Steinbergpark, durch den der Packereigraben fließt, der die Cité Foch im Nordwesten begrenzt. In den 1920er-Jahren wurde das Waldgebiet zur Parkanlage mit einem künstlich angelegten Wasserfall umgestaltet, der bis heute im Sommer unermüdlich in den Steinbergsee plätschert.

Wer neben der idyllischen Natur zum Ausgleich noch Kultur sucht, muss um die Cité Foch herumwandern. Hinter dem S-Bahnhof Waidmannslust ist seit 2016 das Loci Loft zu Hause, ein Club für Jazz-, Swing-, Soul- und Bluesfans. Nur wenige Häuser weiter hat die private Musikschule piano e forte ihr Domizil, mit der das Loci Loft regelmäßig kooperiert. Wer kein Instrument, sondern lieber Tanzen lernen will, ist im Centre Talma an der Hermsdorfer Straße gut aufgehoben. Es wurde in den 1970er-Jahren als Kulturzentrum der Cité Foch eröffnet und nach dem Abzug der Alliierten zu einer Sport- und Freizeiteinrichtung für Kinder und Jugendliche umgewandelt. Wem der sportliche Ausgleich im Centre Talma nicht reicht, dem bleibt noch Berlins erster Wutraum, der sich nur wenige hundert Meter entfernt im Industriegebiet versteckt. Ab 90 Euro wird im Crash Room Action Painting angeboten, wer einen „liebevoll eingerichteten Raum mit Möbeln, Geschirr und Dekoration“ zerdeppern will, kann dies ab 220 Euro tun.

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Marc Lippuner

leitet seit 2017 die WABE, ein Kulturzentrum im Herzen des Prenzlauer Bergs. Nebenbei frönt er mit den von ihm gegründeten Kulturfritzen, einem kleinen Projektbüro für kulturelle Angelegenheiten, seiner Berlinliebe: So hat er eine monatliche Radiosendung bei ALEX Berlin und einen wöchentlichen Podcast. Kürzlich ist sein Kalender Berliner Geschichte 2024 im Elsengold Verlag erschienen.

Für unser Magazin unternimmt er kulturelle Entdeckungsreisen durch Berliner Kieze, empfiehlt eine Handvoll Kulturevents, die man in den kommenden Wochen auf keinen Fall verpassen sollte, und stellt aktuelle Berlinbücher vor

Die Kulturfritzen