Folge 5:

Kollwitzkiez

Vier große Magistralen begrenzen das, was der Kiezatlas den „Lebensweltlich orientierten Planungsraum Kollwitzplatz“ nennt. Hier, in dem durchsanierten Gründerzeitviertel zwischen Schönhauser Allee, Danziger Straße, Prenzlauer Allee und Torstraße, leben knapp 16.000 Menschen. In der teuersten Wohngegend des Prenzlauer Bergs, in der die Dichte an Geschäften für Kindersachen, kleinen Boutiquen sowie ausgefallenen Restaurants, hippen Cafés und trendigen Bars so groß ist wie wohl nirgendwo sonst in der Stadt, erhöhen auch zahlreiche Kulturstätten die Attraktivität des Kiezes, der zu einem der beliebtesten touristischen Hotspots außerhalb der beiden Stadtzentren avanciert ist.

Käthe-Kollwitz-Statue von Gustav Seitz

Seinen heutigen Namen verdankt der Kiez dem zentral gelegenen Kollwitzplatz sowie der ihn im Osten begrenzenden gleichlautenden Straße. 1947 wurde mit der Umbenennung von Wörther Platz und Weißenburger Straße die sozialkritische Grafikerin und Bildhauerin Käthe Kollwitz (1867–1945) geehrt, möglicherweise auch ihr Mann Karl (1863–1940), der als sozialdemokratischer Armenarzt die vielleicht wichtigste Instanz im Arbeiterkiez war. Das Ehepaar wohnte ein halbes Jahrhundert hier.

Wer sich von Käthe Kollwitz über ihr Leben in Prenzlauer Berg erzählen lassen möchte, findet am Zaun an der Kollwitzstraße, in Blickweite der 1960 von Gustav Seitz geschaffenen überlebensgroßen Bronzeskulptur der Künstlerin, einen QR-Code. Scannt man diesen mit seinem Smartphone, erhält man einen Anruf von Käthe Kollwitz (gesprochen von Katharina Thalbach), die einen während ihres Monologs auch zur Hausnummer 56a führt, wo einst das Wohnhaus der Familie Kollwitz stand – direkt an der südlichen Spitze der dreieckigen Grünfläche, die zwischen 1885 und 1887 als Schmuckplatz im neu erschlossenen Wohngebiet angelegt wurde.

Jüdischer Friedhof an der Schönhauser Allee

Nur ein Blick auf den Stadtplan macht deutlich, dass sich in unmittelbarer Nähe – lediglich durch die Knaackstraße und eine gründerzeitliche Häuserzeile getrennt – eine weitere triangelförmig gefasste Parkanlage befindet. Achtmal größer als der Kollwitzplatz lädt der Jüdische Friedhof an der Schönhauser Allee auf fünf Hektar zu besinnlichen Spaziergängen ein. Nachdem der alte innerstädtische Friedhof in der Großen Hamburger Straße geschlossen wurde, fand hier – damals noch unmittelbar vor den Toren der Stadt – im Jahr 1827 die erste Grablege statt. Bis 1880, mit der Eröffnung des Jüdischen Friedhofs in Weißensee, wurden hier alle in Berlin verstorbenen Juden und Jüdinnen beigesetzt, unter ihnen 1864 der Komponist Giacomo Meyerbeer.

Vereinzelte Beerdigungen gab es noch bis in die 1970er-Jahre. So fanden hier 1899 der Verleger Leopold Ullstein, 1932 James Simon, der Kunstmäzen, der dem preußischen Staat die Nofretete schenkte, oder drei Jahre später der Maler Max Liebermann ihre letzte Ruhe. Sehenswert sind darüber hinaus das eklektizistisch gestaltete Wandgrab des Ehepaars Manheimer aus gelbem Klinker sowie das pyramidenförmige Grabmal der Fabrikantengattin Sophie Loewe, das mit einem Portraitmedaillon gegen die Tradition der Bildlosigkeit in der jüdischen Friedhofskultur verstieß – es soll das erste Beispiel dieser Art in Berlin sein.

Auch das 2005 auf den Fundamenten der kriegszerstörten Trauerhalle errichtete Lapidarium, das mehr als 60 Grabsteine ausstellt und über jüdische Trauerkultur informiert, lohnt einen Besuch.

Eingangstor der Synagoge in der Rykestraße

Interessanterweise findet man im Kollwitzkiez kein histori(sti)sches Kirchengebäude: Die Türme zahlreicher christlicher Gotteshäuser bestimmen allesamt die Skyline der unmittelbaren Nachbarschaft. Das religiöse Schmuckstück des Viertels versteckt sich in der Rykestraße 53. Hier steht die größte Synagoge Deutschlands. Ein Blick durch die beiden Torbögen des Vorderhauses lässt das Ausmaß der im Hof gelegenen, von Gemeindebaumeister Johann Hoeniger entworfenen neoromanischen Basilika kaum erahnen. 1904 wurde sie als „Friedenstempel“ mit Religionsschule und Schulbaracke eingeweiht. Ihre Größe verweist auf die immense Bedeutung Prenzlauer Bergs als Mittelpunkt jüdischen Lebens um die Jahrhundertwende.

Während der Diktatur der Nationalsozialisten wurde das Gebäude als Pferdestall und Depot für die Wehrmacht missbraucht. 1953 fand, nach einer umfassenden Renovierung, die erneute Weihe der einzigen erhaltenen Synagoge Ostberlins statt, die daraufhin zum Zentrum des Judentums in der DDR aufstieg. Ab 2004 erfolgte eine dreijährige Sanierung des Gebäudekomplexes.

Wasserturm und Parkanlage

Wendet man den Blick von der Synagoge nach links, schaut man auf den 44 Meter hohen, aus märkischen Ziegeln erbauten Wasserturm. 1877 fertiggestellt, ist das von Wasserwerksdirektor Henry Gill entworfene, mit einem Hochwasserreservoir ausgestattete Wohngebäude für die Maschinenarbeiter der älteste Wasserturm Berlins. Er stellte bis 1952 die Wasserversorgung in den umliegenden Vierteln sicher.

Im danebenliegenden Maschinenhaus wurde 1933 von den Nationalsozialisten ein „wildes Konzentrationslager“ eingerichtet. Das Gebäude wurde 1935 im Zuge der Umgestaltung des Geländes abgerissen und die neue Freifläche zu einer öffentlichen Grünanlage. Noch immer existiert der auf den überwölbten Wasserspeichern angelegte Park, von dem aus man einen schönen Blick über das Stadtviertel bis zum Fernsehturm am Alexanderplatz hat. Die Speicher selbst werden gelegentlich für künstlerische Interventionen genutzt.

Backfabrik

Es sind nicht die einzigen historischen Industriebauten, die im Kollwitzkiez als Kulturorte revitalisiert wurden. An der Prenzlauer Allee, Ecke Saarbrücker Straße, steht die Backfabrik. Hier, wo in den 1920er-Jahren wöchentlich 1,1 Millionen Brötchen gebacken wurden, sind seit knapp zwei Jahrzehnten „kreative Denkarbeiter“ und ein großes Fitnessstudio beheimatet. Auf dem Gelände befindet sich mit dem „Nocti Vagus“ auch Berlins erstes Dunkelrestaurant, in dem regelmäßig Krimi-, Grusel- und Musikdinner angeboten werden.

Wer Literaturveranstaltungen oder Konzerte sucht, sollte mal in das Programm der „Clinker-Lounge“ schauen, die in der ehemaligen Halle für Sahneeisproduktion eingerichtet wurde.In unmittelbarer Nachbarschaft stehen die gelben und roten Klinkerbauten der Bötzow-Brauerei. Hier, auf dem einstigen Windmühlenberg, stellte man ab 1885 Bier her, das nicht nur am preußischen Königshof serviert, sondern auch vor Ort in einem riesigen Biergarten ausgeschenkt wurde. Das Gelände, auf dem bis 1949 gebraut wurde, wird derzeit nach Plänen des britischen Stararchitekten David Chipperfield zu einem Quartier mit Hotel, Geschäften, Büros, Freizeit- und Kulturangeboten umgebaut.

Bötzow-Brauerei | Ehemalige Brauerei Königstadt | Frannz-Club in der Kulturbrauerei

Ein paar Meter die Saarbrücker Straße hinauf stehen die Gebäude der ehemaligen Brauerei Königstadt, die zu den ältesten der mehr als ein Dutzend Brauereien gehörte, die sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander ansiedelten. Um 1890 entstanden die erhaltenen Ziegelbauten, in denen sich früh eine kleinteilige Nutzung etablierte, die bis heute Bestand hat: Derzeit arbeiten hier etwa 500 Menschen in kleinen Ateliers, Handwerksbetrieben, Medienunternehmen und Start-ups.

Gelegentlich finden Konzerte im „Roadrunner‘s Paradise Club“ statt, der im ehemaligen Kesselhaus mit ausgesuchten Devotionalien die klassische Auto- und Motorradkultur feiert. Ganz neu eröffnet hat „Kino & Bar in der Königstadt“, ein Ort, in dem künftig die Kunst des Filmemachens im Mittelpunkt stehen soll. Mit dem internationalen Kurzfilmfestival „Interfilm Berlin“ gelang ein spannender Auftakt; weitere Festivals, themenspezifische Reihen und Filme fernab des Mainstreams bestimmen das Programm.

Ein anderes Kino, aber eines, das durchaus auch Blockbuster zeigt, findet man mit dem „CineStar-Kino“ in der Kulturbrauerei, einem 25.000 Quadratmeter großen Bauensemble im Nordwesten des Kollwitzkiezes. Hier, wo Danziger Straße und Schönhauser Allee aufeinandertreffen, wurde erst 1967 der Brauereibetrieb endgültig eingestellt, bereits 1962 zog die Kultur aufs Gelände: Im Restaurationsgebäude wurde das nach einem beliebten DEFA-Schauspieler benannte Kreiskulturhaus „Erich Franz“ eingerichtet, das sich nach 1970 als Jugendclub mit Livekonzerten schnell zum Publikumsmagneten entwickelte.

Seit 2004 ist an selber Stelle das „frannz“ zu Hause, ein Restaurant mit angeschlossenem Club. Auch die restlichen Häuser werden seit Anfang der 1990er-Jahre kulturell genutzt, sodass man die von Franz Schwechten nach dem Vorbild einer mittelalterlichen Burganlage ausgebaute einstige Schultheiß-Brauerei durchaus als kulturellen Schmelztiegel des Kiezes bezeichnen kann.

An Sonntagnachmittagen findet ein Streetfoodmarkt statt, in der Adventszeit hat der Lucia-Weihnachtsmarkt hier seinen festen Platz. Mit „Ch. Links“ und „bebra“ sind zwei interessante Berlin-Verlage auf dem Gelände ansässig. Im „Soda Club“ kann die Nächte durchgetanzt werden, im „Maschinenhaus“ und im „Kesselhaus“ finden größere Konzerte statt. Die „Alte Kantine“ bietet ein vielfältiges Programm von Lesung bis Disco, auch das „Panda Theater“ versteht sich als interdisziplinäre Kulturplattform, allerdings mit osteuropäischem Schwerpunkt.

Im „Haus für Poesie“ wird „zeitgenössische Poesie in ihrer Formenvielfalt auf die Bühne gebracht und diskutiert“, das „RambaZamba“ ist mit einem beeindruckenden Repertoire Deutschlands erfolgreichstes inklusives Theater. Das „Museum in der Kulturbrauerei“ zeigt in seiner Dauerausstellung den Alltag in der DDR, darüber hinaus laden ein bis zwei Wechselausstellungen im Jahr zur regelmäßigen Wiederkehr ein.

Einkehren sollte man unbedingt auch im „tic“ – der Tourismusinformation, die für Gäste und Einheimische immer die richtigen Tipps bereithält. Von hier aus kennt man auch den Weg zu jenen Kulturorten im Kollwitzkiez, die bislang noch nicht genannt wurden: In die Kultur- und Schankwirtschaft BAIZ zum Beispiel, die an der Schönhauser Allee, Ecke Wörter Straße ein politisch und sozialkritisch geprägtes Programm kuratiert. Hier finden zahlreiche Lesungen und Buchvorstellungen statt, gelegentlich gibt es Vorträge, kleine Konzerte, eine Open Stage sowie ein Kneipenquiz.

Der Salon der Rohnstock Biografien öffnet seine Pforten eine Straßenecke weiter, in der Schönhauser Allee 12. Die Firma, die sich als erstes Unternehmen im deutschsprachigen Raum auf das professionelle Schreiben von Memoiren spezialisiert hat, entwickelte den Erzählsalon, um die Erzähl- und Erinnerungskultur zu fördern.

Sebastian-Haffner-Zentrum | bat | Pferd von Marco Flierl im Myer‘s Hotel.

Erinnern kann man sich auch im Kultur- und Bildungszentrum Sebastian Haffner, das sich in einem gelben, von Stadtbaurat Hermann Blankenstein in den 1880er-Jahren realisierten Klinkerbau unweit des Wasserturms befindet. Bis 1997 fungierte das Gebäude als Schulstandort, 1998 zog eine der Bezirksbibliotheken ein, die regelmäßig Autorenlesungen veranstaltet, zwei Jahre später eröffnete das Bezirksmuseum hier seinen Hauptsitz und präsentiert seitdem abwechslungsreiche Ausstellungen über das Leben in Prenzlauer Berg. Seinen Namen verdankt der Komplex dem Publizisten Sebastian Haffner, der als Kind im Vorderhaus an der Prenzlauer Allee wohnte, weil sein Vater Direktor der Schule war.

Nur eine Ecke weiter, in der Belforter Straße 15, befindet sich das bat. Das in den 1960er-Jahren von Brigitte Soubeyran und Wolf Biermann in einem ehemaligen Tanzsaal eingerichtete Berliner Arbeiter-Theater wurde bereits vor der Eröffnungsrevue offiziell wieder geschlossen. Seit dieser Zeit wird es von der Staatlichen Schauspielschule (heute „Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch“) als Proben- und Aufführungsort genutzt.

Auf die rückwärtige Mauer des bat blickt man vom Gastgarten des Myer‘s Hotels. Das Viersternehotel in der Metzer Straße 26 versteht sich als „Stätte der Gastlichkeit und Kultur“: Es unterstützt Festivals und Events im Land Berlin, regelmäßig werden hier literarische, musikalische oder politische Salons ausgerichtet, im Gastronomiebereich sind Wechselausstellungen zu sehen, dauerhaft haben im Hof und Foyer einige Bronzeskulpturen von Marco Flierl ein Zuhause gefunden.

Auch auf der Kollwitzstraße gibt es Kunst zu sehen. Zwei kleine Galerien, graefe art.concept (Hausnummer 72) und die Living Gallery (Hausnummer 53) zeigen zeitgenössische Kunst und Werke der klassischen Moderne.

Direkt neben letztgenanntem Showroom hat seit einem Vierteljahrhundert das 60 Personen fassende theater o.N. seine Wirkungsstätte. Hervorgegangen ist es aus dem „Theater Zinnober“, das 1980 als „erstes Off-Theater der DDR“ gegründet wurde. Figurentheater, körperbetontes Spiel und biografische Ansätze sind Grundlagen bei der Stückentwicklung des Ensembles, das seit Anbeginn einen starken Bezug zum Kollwitzkiez hat. Dieser war jahrelang aufgrund von Anwohnerbeschwerden bedroht.

Neue Schallschutzvorrichtungen ermöglichen derzeit eine befristete Weiternutzung, doch spätestens in drei Jahren ist hier endgültig Schluss. Dann verschwindet eine Kulturinstitution aus dem Kiez. Aus Prenzlauer Berg soll sie wohl nicht verschwinden, Bezirk und Senat prüfen gerade eine langfristige Alternativlösung. Im Gespräch ist die ehemalige Leichenhalle auf dem Bezirksamtsgelände an der Prenzlauer Allee. Eine schöne Idee, in den schon länger nicht genutzten Ort der Toten bald wieder Leben einziehen zu lassen ■

 

Text & Fotos: Marc Lippuner

Marc Lippuner hat Germanistik, Geschichte sowie Kultur- und Medienmanagement studiert. Nach Jahren als Theatermacher leitet er seit 2017 die WABE im Herzen von Prenzlauer Berg. Nebenbei frönt er mit den von ihm gegründeten Kulturfritzen, einem kleinen Projektbüro für kulturelle Angelegenheiten, seiner Berlin-Liebe.
Im Frühjahr erschien im Elsengold-Verlag sein Spaziergangsführer für den Großbezirk Pankow. Eine Tour führt mitten durch den Kollwitzkiez, eine weitere streift ihn im Nordwesten. Des Weiteren publizierte Marc Lippuner, ebenfalls im Elsengold-Verlag, Wandkalender zur Berliner und zur Deutschen Geschichte.
Für unser mein/4-Magazin begibt sich Marc Lippuner regelmäßig auf kulturelle Entdeckungsreisen durch die Berliner Kieze, darüberhinaus gibt es eine Handvoll Empfehlungen für Kultur-Events, die man im kommenden Quartal seiner Meinung nach nicht verpassen sollte.
Und für die Leseratten unter Ihnen stellt er diesmal einige neu erschienene Berlin-Bücher vor, die sich nicht nur Weihnachten prima verschenken lassen.