Bewegungsstudien in der Müllerstraße

Text und Bild von Alev Yerinc

Ein Freitagabend Mitte Juni in der Galerie Wedding am Leopoldplatz. Etwa vierzig Menschen sitzen ruhig und konzentriert auf dem Boden des hohen, hellen, L-förmigen Raumes, dessen Außenwände aus hohen Glasscheiben bestehen. Ein Mann, Juan Betancurth, sitzt vor einem Kartenspiel, eine Kamera ist auf seine Hände gerichtet und überträgt das Bild auf einen Bildschirm, so dass die Performerin Romany Dear und das Publikum die wechselnden Karten sehen können, die grafische Drucke in Schwarz-Weiß zeigen. Der Raum ist erfüllt von einem ernsten, elektronischen Sound, den Daniel Neumann live spielt. Die Frau scheint die Karten zu tanzen, so als ob die Kreise, Wirbel, Dreiecke und Blitze darauf geheime Anleitungen seien, die nur sie versteht. Ihr Körper reagiert auf die Karten, die der Mann zeigt und tanzt zur Musik, die ein anderer Mann spielt. Immer? Nein, ein einziges Mal greift sie ein. Sie setzt sich mit an den Kartentisch und bestimmt selbst die Karte, die sie als Nächstes tanzen wird. Ihre Bewegungen haben etwas suchendes, manchmal schlurfendes, oft ringt sie ihre Hände und Arme mäandernd nach oben, als würde sie versuchen, etwas mit einem Arm auszuwringen. Sie sitzt und liegt in Positionen, in denen ihre Gliedmaßen seltsam verdreht sind. Draußen am Fenster steht ein Mann und schaut hinein. Als das Oberteil der Tänzerin verrutscht und kurz ihre Brustspitze zu sehen ist, versteht er das als Einladung und schlüpft mit der nächsten Gruppe Nachzügler hinein, um den Rest der Performance konzentriert zu filmen.

Es ist schon erstaunlich was Solvej H. Ovesen, künstlerische Leiterin und Kathrin Pohlmann, Produktionsleiterin, in den letzten Jahren aus der Galerie Wedding gemacht haben. Sie können stolz darauf sein, wie gut es bei der Veranstaltung “Across Poly(e)motion” funktioniert, hinaus aus der Galerie, auf den gemeinsamen Vorplatz des Rathauses gezogen zu sein und manchmal sogar den ein oder anderen Anwohnenden aus dem Wedding hinein zu locken, in ihren Raum für zeitgenössische Kunst in der Müllerstrasse. Nicht wenige der Kunstschaffenden, die sie in den letzten Jahren ausstellten, wie Emeka Ogboh oder Henrike Naumann und Sarah Ama Duah, haben sich inzwischen ihren Platz in der Kunstwelt erobert.

Nach einer kurzen Pause geht es weiter. Ein menschliches Wesen in einem sehr bunten, gehäkelten Umhang, einer Camouflage-Hose und bunten Turnschuhen, das einen mit Troddeln und Spiegelchen geschmückten Motorradhelm trägt, betritt zu sphärischen Klängen, Geräuschen und Stimmfetzen den Raum. Es fällt ihm schwer hierher zu gelangen. Die Gestalt bewegt sich wie in Zeitlupe und kriecht geradezu einmal durch den ganzen Raum. Sie greift zu einer mobilen Partybox, die sie wie einen Rollkoffer hinter sich herzieht. Die Musik wird lauter und verändert ihre Dynamik. Die Bommeln am Helm wippen bei jeder Bewegung nach, fast so als hätten sie ein Eigenleben. Die Figur kriecht und strauchelt, liegt auf dem Boden und kämpft mit ihrer Box, die ihr eine Last zu sein scheint. Als sie sich aufrappelt, hat sie eine Entscheidung getroffen. Sehr langsam setzt sie den Helm ab: Eine Frau kommt zum Vorschein. Maque Pereyra nimmt sich die Zeit und überprüft sorgfältig ihr Makeup in den kleinen Spiegeln ihres Helmes, bevor sie ihren schützenden Umhang ablegt und im knappen Top und der Militärhose wie eine sexy Guerillakämpferin aussieht. Jetzt verändern sich die Musik und die Atmosphäre im Raum komplett. Zu treibenden Rhythmen heizt die Tänzerin dem Publikum ein. Sie fordert alle auf mitzumachen und, heiliger Wedding!- es funktioniert. Sie gibt den begeistert Tanzenden eine kurze praktische Einführung ins Twerken, eine sehr kunstvolle Art des Popowackelns, und schon verwandelt sich der Kunstraum in ein Tanzstudio. Dann verschwindet sie hinter ihrem DJ Pult und legt für ihr Tanzpublikum auf. Wieder verwandelt sich der Raum: Die Galerie wird zur Disco. Fast alle Anwesenden tanzen, der filmende Mann ist auch dabei- und einer, der vielleicht sein Vater ist. Mit hoch erhobenen Armen und lächelnden Gesichtern mischen sie sich für ein paar Minuten unter die Menge. Einige wenige Gäste bleiben sitzen und reiben sich verwundert die Augen.

Die letzte Performance des Abends ist eine Friedensarbeit. Sie heißt „Yalla Hafla“ und wird von dem Duo Judy LaDivina aus Israel und dem begnadeten Bauchtänzer TheDarvish aus Syrien dargeboten. Das Projekt ist typisch für unsere Stadt. Wären sie nicht beide in Berlin gelandet, hätten sie sich wahrscheinlich niemals kennengelernt, obwohl ihre Herkunftsorte nicht weit voneinander entfernt liegen. Die überaus elegante, charmante und gleichermaßen scharfzüngige Judy beherrscht den lippensynchronen Playbackgesang göttlich, ihr strahlender Begleiter wirbelt tanzend durch den Raum, als ginge es um sein Leben. Ein paar arabische Jungs stürmen in den Raum und können ihr Glück kaum fassen. Endlich was los im Wedding. Sie filmen den Bauchtänzer. Einer von ihnen verliert vor Aufregung sein Basecap. Der Darvish tänzelt herbei, hebt sie auf und setzt sie ihm lächelnd wieder auf den Kopf. Ein weiterer Höhepunkt ihres Auftritts ist der Bauchtanzwettbewerb, der gleichzeitig der Abschluß der Performance und des Abends ist.

Die großen Wandgemälde von Thomias Radin, Tänzer und Maler, dessen Ausstellung „Polychrome“ parallel in der Galerie Wedding stattfindet, gehen beständig Symbiosen mit den verschiedenen Performances ein. Sie beeinflussen sich gegenseitig und vervielfältigen die Assoziationen und Interpretationsmöglichkeiten des Publikums.

Malte Pieper und Nitsan Margaliot haben das frische, internationale, bunte und inspirierende Programm zusammen mit Ovesen und Pohlmann kuratiert. Es gab und gibt noch viel mehr zu entdecken im Rahmen des Ausstellungsprogramms Poly 23: Im Juli und August wird es Movement Sessions mit Thomias Radin geben, am 24.8.23 eine kuratorische Ausstellungsführung. Die Ausstellung „Polychrome“ ist bis zum 26.8.23 zu sehen.

Der Eintritt ist kostenlos und das Gebäude barrierefrei.

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Alev Yerinc

landete 1993 auf dem Planeten Prenzlauer Berg. Nach dem Abitur studierte sie Kulturwissenschaften und Europäische Ethnologie in Berlin und Barcelona. Sie ist freiberufliche Sprecherin und Autorin. Für Kulturpate e.V. arbeitet sie mit Kindern und Jugendlichen.

Ihr Kulturreport auf mein/4 online beleuchtet versteckte Perlen der Berliner Kunstszene jenseits des Mainstreams, ebenso wie die Kronjuwelen der sogenannten Hochkultur.

Alev Yerinc