Das Pergamon Museum und das Pergamon Panorama sind weder dasselbe noch das Gleiche. Das habe ich letzte Woche herausgefunden.

Text und Bild von Alev Yerinc

Gerade sind kolumbianische Freund*innen zu Besuch in Berlin. Auf meine Frage, was sie sich nach zwei Wochen in Deutschland so angesehen hätten lautete die Antwort: „Berghain?“ Wir waren eindeutig reif für die Insel- die Museumsinsel. Mir war irgendwie danach, mal wieder das achte Weltwunder der Antike, den zwischen 180 und 160 v. Chr. errichteten Pergamon Altar zu besuchen. Alle hatten bereits Tickets für das Pergamon Museum. Außer mir. Ich hatte mein Ticket nachts, müde und ohne Brille gebucht. Für das Pergamon Museum ging es irgendwie nicht, also buchte ich eins für das Panorama. Ich dachte, damit kann ich wenigstens einen Teil der Ausstellung, den Altar selbst, anschauen. Wie sich herausstellen sollte, war das aber nur in meinem Kopf so. Ich wartete in meinem schönsten Kleid dahingestreckt auf den Treppen des Museums auf die Freund*innen und las im ersten Kapitel der „Ästhetik des Widerstands“, was sonst, um mich auf das Wiedersehen mit dem Pergamon Altar einzustimmen. Die Freund*innen kamen sehr ungefähr pünktlich. Wenn ich auf andere warte, fühle ich immer ganz stark die Deutsche in mir. Oder die Katalanin: Ich komme immer viel zu früh. Und ich mache mir wahnsinnig gerne Sorgen. Denn ich fand heraus, dass ich mir am Abend zuvor kein Ticket für das Pergamon Museum kaufen konnte, weil es restlos ausverkauft war. Und dass das Panorama, für das ich ein Ticket hatte, sich ganz woanders befand. So hatte ich genug Zeit mir darüber Gedanken zu machen, was alles schief gehen würde beim Einlass. Alle würden reinkommen, nur ich nicht. Ich fühlte mich schon jetzt ausgeschlossen. Aber wie das so ist bei coolen Freundinnen, die dauernd ins Berghain gehen und dementsprechend Erfahrung haben im Schlange stehen und Reinasseln (Clubsprache für Eintritt sparen), fand sich eine Lösung, über die ich hier nicht schreiben kann, um niemanden in Verlegenheit zu bringen.

Wir waren jedenfalls drin. Ich besuche das Museum alle paar Jahre, um nicht zu vergessen, woher ich komme. Woher wir alle kommen. Denn entgegen der stetigen Aufforderung gefälligst im Hier und Jetzt zu sein, halte ich es für gesund, mich an unsere Vorfahren zu erinnern, ohne die es uns nicht gäbe.
Es war ganz wundervoll im Museum. Mächtige Wächterfiguren und Götter, die oft als Mischwesen aus Tieren und Menschen dargestellt wurden, begrüßten uns. Dann ging es durch eine Prozessionsstraße hin zum Ischtar- Tor, eines der Stadttore von Babylon. Der Pergamon Altar aber ist zu meiner Enttäuschung nicht zu sehen. Er wird gerade restauriert, was noch ungefähr vier Jahre dauern wird. Man sieht ihn für etwa drei Sekunden in einem kleinen Film, der zeigen soll wie modern und großartig das Museum nach der 14-jährigen (!) Restaurierung sein wird. Wir stromern durch die Ausstellung, in der einerseits versucht wird, die Atmosphäre eines alten Tempels herzustellen und andererseits, das Alltagsleben der Menschen darzustellen. Es gibt eine Installation von Liam Gillick, einem britischen Künstler, der den Exponaten aus verschiedenen Epochen mit Sound und Licht neue Perspektiven verleihen und die Vergangenheit mit der Gegenwart verbinden möchte. Die Sounds, für mich klingen sie wie Verkehrs- oder Maschinengeräusche, empfinde ich oft als störend, weil ich es im Museum eigentlich genieße, dem allgegenwärtigen Lärm der Stadt einmal nicht ausgesetzt zu sein. Die Beleuchtung finde ich hingegen sehr gelungen. Ich bekomme eine Vorstellung davon, wie die Figuren zu verschiedenen Tageszeiten wirkten und wie sie im Original aussahen. Nämlich bunt. Entgegen der jahrhundertelang vorherrschenden Vorstellung, sie seien weiß gewesen, ist man sich heute sicher, dass sie farbig gestaltet waren. Mit modernster Technik kann man winzige Farbreste auf dem Stein nachweisen. Schonend, nämlich durch farbige Beleuchtung, wird der Originalzustand temporär wieder hergestellt ohne die Wirkkraft der eigentlichen Objekte infrage zu stellen.

Die Menschen lieben Farben, immer schon und überall. Leicht kann man dem Trugschluss unterliegen, vor der Erfindung des Farbfilms hätten unsere Vorfahren Schwarz, Weiß und Grau bevorzugt, aber nein, andere Quellen wie Gemälde, Drucke oder erhaltene Gegenstände und Textilien beweisen das Gegenteil.
Wir sehen Vasen, Schalen, Perlenketten aus bunten Steinen, kleine Figuren aus Blei und Schmuck aus Gold. Ich bekomme eine Gänsehaut, bei der Vorstellung, dass diese Gegenstände echt sind und von den Menschen früher mit ihren Händen hergestellt wurden. Vieles hat eine Art Hippieästhetik, wahrscheinlich weil alle Hippies hier im Pergamon Museum waren und die Vitrinen aufmerksam studiert haben. Wundern würde es mich nicht, so voll wie das hier ist. Woher kommt nur diese Lust auf Artefakte? Haben die auch alle zu viel Indiana Jones geschaut, so wie ich?

Wir sind noch gar nicht müde, deshalb schlendern wir durch das Museum für Islamische Kunst im 1. Stock. Vasen, Schalen, Gebetsnischen, Teppiche, Kalligrafie. Hier würde ich gerne mit den geflüchteten Kindern und Jugendlichen hingehen, mit denen ich arbeite. Um ihnen ihre Herkunft in einem historischen Kontext zu vergegenwärtigen und ihnen zu zeigen, wie sehr die Kultur ihrer Länder hier geschätzt wird. Zumindest die ihrer Vorfahren. Das werde ich tun, sobald es wieder möglich ist, also gleich in 14 Jahren. Wenn das gesamte Museum voraussichtlich 2037 wieder eröffnet, werden mindestens 1,5 Milliarden Euro in die Restaurierung geflossen sein. Ich finde das gut, wenn Geld für Kultur ausgegeben wird. Dann bleibt weniger für Kriegshubschrauber übrig.
Kunst macht schrecklich hungrig. Wir stärkten uns mit Hummus und Falafel und hatten unsere Freude daran uns vorzustellen, dass die Menschen, die die Dinge herstellten, die wir soeben bewundert hatten, sich ebenfalls schon an diesen und ähnlichen Köstlichkeiten labten. Danach musste ich ein bisschen weinen. Ich wollte den lieben Gästen das Tacheles zeigen und war erschrocken darüber, was sie ihm angetan haben. Unser schöner, wilder Spielplatz, er ist zu einer Fußgängerzone in Wiesbaden geworden. Eine herzlose Steinwüste, in der eine Wohnung 4 Millionen Euro kostet. Nach einer Auszeit im James Simon Park trocknete ich meine Tränen, putzte mir die Nase und nahm das nächste Abenteuer in Angriff. Ich hatte ja noch dieses Ticket für das Panorama.

Wir gingen über die Brücke am Bode Museum zurück zur Museumsinsel und liefen zum Turm, der jetzt gegenüber des früheren Eingangs des Pergamon Museums steht. Während der Sanierungsarbeiten am historischen Pergamonmuseum findet hier und in Pforzheim (?!) eine Ausstellung über die antike Stadt Pergamon und den weltberühmten Altar statt. Die Ausstellungen werden auch in den Jahren, in denen das Pergamonmuseum wegen der Sanierung geschlossen ist, zu sehen sein.
Das Panorama zeigt einen Rundblick auf die Akropolis (auf Deutsch: Oberstadt) der Stadt Pergamon, die römische Unterstadt und die Landschaft ihrer Umgebung. Rund um den Turm sind Originale aus dem Pergamon Museum zu sehen. Der 15 Meter hohe Turm, der merklich schwankte, je höher ich stieg, bietet auf drei Plattformen einen Blick auf das 360 Grad Panorama. Die Beleuchtung wechselt, ein Tagesablauf wird simuliert. Zusätzlich gibt es einen Klangteppich, in dem Geräusche, Stimmen und Musik verwebt werden. Die Musik war für mich schwer zu ertragen. Ich kann es nicht leiden, wenn mir durch Musik vorgeschrieben wird, was ich zu fühlen habe. Die anderen Klänge, vor allem die Stimmen und das Lachen, das gelegentlich zu hören ist, gefielen mir. Sie halfen mir dabei, mich auf die Simulation einzulassen und gaben mir das Gefühl mitten drin zu sein im Gewimmel der Stadt.
Wer gerne Asterix und Obelix liest und „Das Leben des Brian“ mag oder, so wie ich, sogenannte Sandalenfilme liebt, in denen mit Felsbrocken aus Styropor geworfen wird, und bei denen manch ein römischer Soldatenkomparse versehentlich noch seine Armbanduhr trägt, der kommt hier voll auf seine Kosten. Für Kinder ist es ein Riesenspaß. Sie werden danach sehr gut schlafen.

Das Panorama führte uns zurück ins Jahr 129 n. Chr., genauer gesagt zu einem Festtag zu Ehren Dionysos. Wir sahen unter anderen das Griechische Theater, das Kaiser Hadrian besucht, in dem eine Lustbarkeit zu Dionysos Ehren aufgeführt wird, zahlreiche Handwerksbetriebe, einen Sklavenmarkt und den Pergamonaltar, in dessen Innenhof zahlreiche Brand- und sonstige Opfer dargebracht werden. Die Darstellung der Menschen ist fotorealistisch, es sind Models in historischen Kostümen und sie feiern ausschweifend. Man kennt Entsprechendes von gelungenen Festivals. Und ja, die Feuer leuchten im Dunkeln.

Die Außenseiten des Altars dienen als Träger für das Große Fries. Auf dem Höhepunkt griechischer Reliefkunst wird ein zentrales Ereignis der griechischen Mythologie gezeigt: Die Gigantomachie, die gewaltige Schlacht, die sich die Götter mit den Giganten liefern. Es geht mal wieder um nichts Geringeres als um die Weltherrschaft.
Man könnte meinen, ich hätte nun den passenden Platz gefunden, um über Peter Weiss` Beschreibung des Frieses zu meditieren, dessen Erzähler sich in der Nazizeit mit zwei Freunden im Pergamonmuseum traf, da es kaum noch andere Orte gab, an denen sich Widerstandskämpfer wie sie relativ gefahrlos treffen konnten. Sie betrachteten den Fries und versuchten Gemeinsamkeiten mit ihrem Kampf gegen die übermächtigen Feinde zu finden und daraus Trost und Kraft zu schöpfen.
Aber zum Lesen ist es hier viel zu kalt. Für einen längeren Aufenthalt empfiehlt es sich unbedingt ein wärmendes Ziegenfell im Gepäck zu haben. Und einen Klappstuhl. Denn Verweilen soll man hier offensichtlich nicht. Es gibt kaum Sitzmöglichkeiten.
Das Panorama ist nichts für Puristen. Es kommt mir vor, wie ein gigantisches Spektakel mit ein paar Originalen drumherum zur Dekoration. Wie ein riesiger, viel zu süßer Eisbecher voller künstlicher Aromastoffe, auf dem ein paar sehr leckere Erdbeeren liegen.
Aber hej, was soll die Trennung zwischen E und U? Es soll doch für jeden Geschmack etwas dabei sein. Die Kombination von Pergamonmuseum und Panorama ist für Menschen mit etwas Kondition jedenfalls prima. Erst die echten, alten Artefakte, dann das mit prallem Leben gefüllte Panorama.

Ab dem 23. Oktober 2023 schließt das Pergamonmuseum für etwa vier Jahre komplett. Öffnungszeiten: Bis einschließlich Sonntag, 22. Oktober 2023, dienstags, mittwochs, freitags, samstags und sonntags von 9 bis 19 Uhr, donnerstags von 9 bis 20 Uhr.

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Alev Yerinc

landete 1993 auf dem Planeten Prenzlauer Berg. Nach dem Abitur studierte sie Kulturwissenschaften und Europäische Ethnologie in Berlin und Barcelona. Sie ist freiberufliche Sprecherin und Autorin. Für Kulturpate e.V. arbeitet sie mit Kindern und Jugendlichen.

Ihr Kulturreport auf mein/4 online beleuchtet versteckte Perlen der Berliner Kunstszene jenseits des Mainstreams, ebenso wie die Kronjuwelen der sogenannten Hochkultur.

Alev Yerinc