Text: Silke Schuster
Fotos: Pavol Putnoki

Sabine Werth über die Doppelmoral der (Berliner) Tafel


Die studierte Sozialarbeiterin Sabine Werth, geboren 1957 in Berlin-Buch, gründete die Berliner Tafel 1993 und macht sich bis heute für armutsbetroffene Mitmenschen in der Hauptstadt stark. Mittlerweile unterstützt die Berliner Tafel e. V. monatlich 170 000 bis 180 000 Menschen und verteilt rund 660 Tonnen Lebensmittel.

In ganz Deutschland gibt es mittlerweile 969 Tafeln. „Ich hoffe, dass wir die Zahl 1000 noch lange nicht erleben.“ Die Tafelentwicklung in Deutschland offenbart eine traurige Realität: Immer mehr Menschen sind von Armut betroffen und auf Unterstützung angewiesen – sowohl in der Bevölkerung als auch innerhalb sozialer Einrichtungen. Gleichzeitig werden sehr viele Lebensmittel weggeworfen. „Das ist in so einem reichen Land wie Deutschland wirklich ein Armutszeugnis“, stellt Werth klar.

Gründung der Berliner Tafel für soziale Einrichtungen

Werth arbeitete nach ihrem Studienabschluss als Sozialarbeiterin und baute einen Familienpflegebereich für das Nachbarschaftsheim Schöneberg auf, bevor sie sich selbstständig machte. 1987 eröffnete sie die erste private Familienpflege in Berlin: „Das war eine ganz neue Sache, die der damalige Sozialsenator Ulf Fink in Berlin etablieren wollte. Es gab die Familienhilfe über das Jugendamt, aber es gab keine Familienpflege, also Putzen, Kochen und Einkaufen bei Familien mit Kindern. Das sollte in den Bereich der Sozialstationen integriert werden. Nach dem Motto: von der Schwangerschaft bis zum Tod.“

Wir wollen den Menschen eine Tafel decken, die es sich sonst nicht leisten können.

Sechs Jahre später wurde in der damaligen Initiativgruppe Berliner Frauen e. V. eine neue Idee geboren: Inspiriert von einem Artikel über City Harvest New York, einer Initiative, die nach Empfängen die Banketts absammelt und den Obdachlosen auf die Straße bringt, fingen die Frauen, unter ihnen Sabine Werth, damit auch in Berlin an. Die erste Titelidee für die neue Initiative war Tischlein deck dich. „Doch zur damaligen Zeit wurden die Obdachlosen mit Polizeigewalt und zum Teil mit Knüppeln aus den Innenstädten vertrieben, damit die Innenstädte nicht verschandelt und die Touristen nicht abgeschreckt wurden. Und in dem Märchen Tischlein deck dich kommt irgendwann die Stelle mit ‚Knüppel aus dem Sack’. Darin habe ich zu viele Parallelen zu den Polizeiaktionen gesehen. Deshalb kam das nicht infrage.“ Dass „Berlin“ im Titel zur Identifikation enthalten sein sollte, stand außer Frage. Der Begriff Tafel passte dann gut zur Intention: „Wir wollen den Menschen eine Tafel decken, die es sich sonst nicht leisten können.“

Als Werth das Ganze bald allein weiterführte, löste sie sich von einer reinen Obdachlosen-Unterstützungsinitiative. Sie wollte ein Dauerprojekt daraus machen. „Es haben immer mehr soziale Einrichtungen nachgefragt, ob wir sie nicht auch mit Lebensmitteln beliefern können.“ 400 dieser Einrichtungen unterstützt die Berliner Tafel mittlerweile mit Lebensmitteln, zum Teil einmal die Woche, zum Teil sieben Mal die Woche. Dazu gehören zum Beispiel psychologische Beratungsstellen, Beratungsstellen für HIV-Positive oder Frauenhäuser. Über diesen Weg unterstützt die Berliner Tafel rund 95 000 Menschen. Mit den sozialen Einrichtungen gibt es klare Absprachen: Findet am Mittwochmorgen eine Veranstaltung statt und hat die Berliner Tafel am Dienstag nicht geliefert, waren nicht ausreichend Lebensmittel verfügbar, und die betroffene Einrichtung muss umdisponieren. Es ist nämlich nicht so, dass täglich ausreichend Lebensmittel zur Verteilung bereitstünden.

Erste Ausgabestelle für armutsbetroffene Menschen

In den Folgejahren gründeten sich viele weitere Tafeln bundesweit, die an die Bevölkerung Lebensmittel ausgaben. „In Berlin hatten wir das auch überlegt. Wir waren uns sicher, dass wir bestimmt um die 100 Ausgabestellen brauchen würden, um die Armutsbetroffenen flächendeckend zu erreichen. Denn wenn ich irgendwo in Mitte eine Ausgabe mache, zwinge ich die Leute quasi dazu, schwarzzufahren. Wer kein Geld für Brot hat, hat erst recht kein Geld für die Öffentlichen. Also haben wir immer soziale Einrichtungen in Berlin unterstützt und von dem anderen erst mal nur gesprochen.“

2004 hatte Werth ein Interview im Kulturradio des rbb. Damals erwähnte sie, die Kirchen ansprechen zu wollen. „Meine Überlegung war“, so Werth, „dass die Kirchen ein flächendeckendes System über die ganze Stadt verteilt haben. Sie haben Räumlichkeiten. Es müsste doch möglich sein, da was zu machen.“ Ihre Idee stieß auf fruchtbaren Boden. Die damalige Redaktionsleiterin Kirche und Religion beim rbb, Friederike Sittler, rief Werth nach dem Interview an und bot sich als Vermittlerin zwischen Tafel und Kirchen an. So entstand in der Folge Laib und Seele, die Aktion der Berliner Tafel, der Kirchen und des rbb, als zweite Säule der Berliner Tafel e. V. Am 3. Januar 2005 wurden die ersten drei Ausgabestellen geöffnet. Heute hat die Berliner Tafel 48 Ausgabestellen über die ganze Stadt verteilt – und wegen der besonders schwierigen Zeit durch Inflation und den Krieg in der Ukraine zusätzlich acht vorübergehende Ausgabestellen. Allein über die Ausgabestellen erreicht der Verein zurzeit etwa 73 000 bis 75 000 Menschen im Monat.

Bessere Handelsdisposition bedeutet weniger Lebensmittelverteilungen für die Tafel

Inzwischen sind die Tafeln mit einer Entwicklung konfrontiert, die ihnen die Arbeit erschwert: Einerseits hat sich die Zahl der Kundinnen und Kunden seit dem Frühjahr 2022 verdoppelt, andererseits disponieren die Firmen besser. „Der Einkauf ist besser, der Abverkauf ist besser. Das heißt“, setzt Werth die erschwerten Rahmenbedingungen in einen Kontext, „wir bekommen im Grunde genommen aus dem Handel immer weniger Lebensmittel. Wenn wir aber immer mehr Tafeln werden, fangen wir an, uns gegenseitig zu kannibalisieren. Und das sollte nicht der Fall sein.“ Dennoch braucht es in Berlin an einigen Stellen mit „blinden Flecken“ weitere Ausgabestellen. Wichtig ist es hierbei, zwischen Tafeln und Ausgabestellen zu unterscheiden. Ausgabestellen sind schneller und leichter zu realisieren als eigenständige Tafeln.

Thema ist auch bei den Tafeln das Mindesthaltbarkeitsdatum. Selbst wenn inzwischen bekannt sein dürfte, dass Lebensmittel überwiegend noch nach Ablauf dieses Datums gut und verzehrbar sind, werfen laut Werth selbst Menschen, die sich der Lebensmittelrettung verschrieben haben, manchmal Lebensmittel nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums weg. Dabei ist es eine Herstellergarantie: Bis zu diesen Datum garantiert die herstellende Firma, dass sich an Form, Farbe und Geschmack nichts verändert hat. Sollte sich vorher etwas verändert haben, ist der Hersteller zum Umtausch verpflichtet. Laut Werth braucht es mehr Aufklärung über die Bedeutung dieses Datums. Und klar sei: „Wenn Ausgabestellen keine Sachen verteilen, deren Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten ist, haben sie nichts zu verteilen.“

Am 3. Januar 2005 wurden die ersten Ausgabestellen geöffnet. Heute hat die Berliner Tafel 48 Ausgabestellen.