Eine Kolumne von Bärbel Stolz

Vor über 20 Jahren, ich war gerade in Berlin angekommen und erlebte den ersten Winter hier (richtig kalt), hab ich den Weihnachtsmann getroffen. Ich stand in der vollen S-Bahn und die Fahrkartenkontrolleure drängelten sich durch. Neben mir hatte wohl jemand keinen Fahrschein.

„Wissen ja, wat det heeßt!“

„Ich weiß, aussteigen und das Bahnhofsgelände verlassen.“

Eine ganz tiefe, warme Stimme war das, sodass ich mich umgedreht habe. Da stand ein kleiner Mann mit weißen Locken und Bart und himmelblauen Augen, die ganz freundlich verschmitzt und fröhlich melancholisch schauten. Ich bin mit aus dem Wagen gestolpert. Ich wollte was tun. Die Grobheit mit Freundlichkeit glätten.

„Ich bin auch schon mal ohne Fahrkarte rausgeflogen“, hab ich gestottert.

Die blauen Augen schauten mich mit Lachfältchen an.

„Möchten Sie eine Zigarette?“ (Damals haben ALLE Schauspielstudierenden geraucht, deswegen tat ich das auch. Bin nicht stolz drauf.)

Er nahm sie, verbeugte sich, lächelte und sagte:

„Einen wunderschönen Tag, liebe junge Dame.“

Damit gingen wir in verschiedene Richtungen auseinander. Und ich hab den ganzen Weg gedacht: „Das war der Weihnachtsmann!“

Ich war ja mit dem Christkind aufgewachsen, aber in Berlin, wer weiß …? Ich habe immer wieder nach ihm geschaut, aber habe ihn nie mehr gesehen.

Früher war eh alles besser!

Da hatten wir noch eine Zukunft. Da hatte ich noch eine jugendliche Naivität und Hoffnung. Jetzt ist meine frühere Zukunft Gegenwart, und die kann ich gerade beim besten Willen nicht verklären. Denn leider findet man irgendwann raus, dass die Menschheit im Allgemeinen unrettbar blöd ist. So blöd, dass man nur kotzen kann.

Wenn es nicht die paar Menschen gäbe, die diese Musik komponiert haben, diese Gedichte geschrieben, diese Forschungen betrieben … diese paar haben schließlich den Unterschied gemacht, die oder der eine, die/der neugierig genug war, verrückt genug, liebevoll genug, toll im besten Sinne –, um sich einzulassen auf etwas, das größer ist als das Brett vor der eigenen Stirn. Bleibt zu hoffen, dass auch wir in unserer und den folgenden Generationen solche Menschen haben, nicht nur blöde Leute. Aber Einstein hatte recht: Grenzenlos ist vermutlich das Universum, die Dummheit der Menschen ganz sicher. Es nervt so.

Jetzt ist schon wieder Weihnachtszeit. Sollen wir uns freuen, dass es so warm ist, dass man die teuren Heizungen noch nicht aufdrehen muss? Oder sich gruseln, weil Europa sich schneller erwärmt, als es uns lieb sein dürfte?

Wir kucken wieder rührselige Filme, in denen grantige Geizhälse liebevoll und großzügig werden, in denen verziehen, geholfen, zusammengehalten wird – hach, schön! – und dann gehen wir raus und motzen erstmal das Nachbarskind an, weil es sein Fahrrad so abgestellt hat, dass man zwei Schritte machen muss, um daran vorbei zur Mülltonne zu kommen. Wir regen uns über die rote Ampel auf und überlegen, wen von der Verwandtschaft man wie spät zum Gänseessen (Gänse?!) einladen muss, damit sie wegen anderer Pläne absagen. Und wehe, es klingelt jemand! Also, jemand anderes als ein Amazon-Bote. So Spendensammelnde. Oder gleich Bedürftige. Das ist doch nicht zeitgemäß. Maria und Josef, ja, das war echt ne Sauerei, dass die niemand aufgenommen hat. Aber immerhin haben wir deswegen zu Weihnachten eine malerische Krippe im Wohnzimmer rumstehen und nicht ein Ausziehsofa für Heiligenfiguren.

Was sollen wir unseren Kindern schenken? Die Aussicht auf eine lebbare Zukunft, Plastikspielzeug und Computergames?

Gemeinsame Zeit, Wurzeln und Flügel … Das klingt schön. Ach, so vieles klingt schön, und ich möchte mich drauf einlassen. Ehrlich. Ich sorge mich doch genug das Jahr über.

Machen wir es doch so: Wir machen mit! Aber richtig. Einverstanden? Wir trällern die Weihnachtslieder mit – ja, auch „Last Christmas“! Wir heulen vor Rührung beim Kleinen Lord, dem deutschen Herzkino und der Merci-Werbung! Wir gehen im Geist durch knirschenden weißen Pulverschnee und hören fernes Glöckchengeläute! Wir glauben einfach an den Weihnachtsmann und das Christkind und dass sie irgendwo in der S-Bahn neben uns stehen! Wir sind höflich, sanft und wohlwollend, als würde ein Weihnachtsengelchen dauernd neben uns mitschreiben in ein goldenes Buch unserer guten Taten. Wir verzeihen einander und auch uns selber einfach mal alles, was nicht echt justiziabel ist. Wir schenken uns Aufmerksamkeit statt Konsumgüter, wir geben etwas ab und sehen fröhlich zu, wie die Freude, die wir geben ins eigene Herz zurückkehrt! Wir beschließen sogar, keine Böller zu Silvester zu brauchen! Wir leben einfach mal den ganzen Weihnachtskitsch, statt uns zu stressen und glauben daran, dass alles irgendwie gut wird, auch wenn vielleicht nicht der Heiland, sondern der achtmilliardste Hosenscheißer geboren wird! Halten wir das aus? Könnte witzig werden. Und rührend.

Und jetzt alle: Last Christmas I gave you my heart …

Infobox

Bärbel Stolz

… ist Schauspielerin und Autorin. Mit ihrer Figur die Prenzlschwäbin hat sie schwäbische, deutsche und großstädtische Eigenheiten aufs Korn genommen und mit ihren YouTubeVideos und Liveauftritten Menschen im ganzen Land begeistert.

www.baerbelstolz.com

Bärbel Stolz