Warme Worte

Eine Kolumne von Alev Yerinc

Gestern, mitten in der Woche, überraschte mich mein Liebster mit der Frage, ob ich abends mit ihm in ein Konzert gehen würde. Dabei war es nicht etwa seine Spontanität, die mich überraschte, sondern sein inniger Wunsch ein Konzert zu besuchen. Zu viele Male schon habe ich ganze Konzerte lang vor dem Veranstaltungsort mit ihm verbracht, wo er es schöner fand als drinnen.

Ich habe generell wenig dagegen auf einer kleinen Mauer (Notwist in der Columbiahalle) oder einem Sofa (Einstürzende Neubauten im Palast der Republik) zu sitzen, die Gestalten der Nacht zu beobachten und zu plaudern. Ich sagte sofort zu.

Das Konzert fand im Ausland in der Lychener Straße statt. Früher gab es dort Technoparties. Heute eher Noisekonzerte und andere die Hörgewohnheiten und das Bewusstsein erweiternde Veranstaltungen. Ich zog mich warm an, falls es werden sollte wie immer. Außerdem sprach ich mir gut zu, dass es sehr wichtig ist, nicht immer nur Musik zu hören, die mir gefällt. Es war die Record Release Party von Lucia Lips neuer Platte Gold Habibi.

Wir kamen fast pünktlich und damit viel zu früh, tranken ganz köstliche Getränke und staunten darüber, dass es Leute gab die noch rauchen. Drinnen. Voll achtziger. Lucia Lip trug einen glänzenden blauen Plastikblazer zu einer weich aussehenden schwarzen Plastikhose und alberte mit ihren Freundinnen herum. Eine Stunde lang.

Ich stehe sehr früh auf. Und werde sehr früh müde. Noch dazu warte ich gar nicht gern. Deshalb fing ich an herumzuningeln. Ich drohte damit nach Hause und ins Bett zu gehen. Allerdings nur meinem Liebsten und auch nur halbherzig. Da änderte sich das Licht und Nebel zog auf. Lucia Lip betrat die Bühne in einem dunkelblauen Kimono von Versace. Nach dem ersten Titel entschied sie sich gegen zu viel Kleidung. Sie streifte den Mantel ab und präsentierte uns ihr Lieblingskleid. Es war aus Silber und endete knapp über ihren Brustspitzen. Vom Hals aus gesehen. Sehr hübsch. Aber bestimmt kühl. Tatsächlich bat sie uns, das werte Publikum, das aus etwa dreißig gut gelaunten Menschen bestand, näher zu kommen. Ihr sei so kalt. Ungewöhnlicher Weise gehorchten wir ihr. Lucia Lip kann sehr schön singen und bewegt sich wunderbar dazu. Wie ein kluger und geschickter Hirtenhund sprang sie ins Publikum und kreiste uns ein. Einzelne Versprengte schubste sie sanft wieder zurück in die Gruppe. Immer wieder bat sie Tänzerinnen zu sich auf die Bühne, sie sei dort sonst so allein. Das war lustig und lieb, aber es war noch nicht das Beste.

Das Beste für mich war, dass der Liebste es nicht bereut hat, diesmal drin geblieben zu sein (und ich auch nicht). Das Beste für alle war, was sie zwischen den Stücken so sagte: „Falls ihr euch in einer Situation dabei erwischt darüber nachzudenken, ob ihr gut genug seid, nehmt verdammt nochmal eure Beine in die Hand und rennt davon.“ Das ist doch mal ein wirklich weiser Ratschlag für ein gutes Leben.

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Alev Yerinc

landete 1992 oder -93 in Prenzlauer Berg, so genau weiß sie das nicht mehr. Nach dem Abitur, das sie im Wedding machte, weil man sie an der Ostschule nicht haben wollte („Gehn se doch nach drübn.“), studierte sie Kulturwissenschaften und Europäische Ethnologie in Berlin und Barcelona.

Sie hat sich von zwei Kindern erziehen lassen und sich in vielen Jobs ausprobiert: Schauspielerin, Sprecherin, Autorin, Sozialarbeiterin für Reiche, Persönlichkeitsentwicklerin bei Jugendlichen und Herbalista im Schamanenbedarf.

In ihrer Kolumne berichtet sie von ihrem Alltag und von ihrer Suche nach dem guten Leben.

Alev Yerinc