Solidarität kann man erhoffen, Musikalität aber nie erwarten. Zum Nachteil des Nervenkostüms manches Chorleiters. Der Vorteil meiner gesungenen Kolumne besteht nun darin, mit einer bestimmten Melodie im Kopf und dem synchron dazu gelesenen Text, ganz solistisch in aller Stille dabei niemanden zu stören.

Ein Musikalischer Appell an das lesende Publikum von Ilja Richter

Weil sich niemand um diese Art Geburtstage Gedanken macht, bleibt wieder alles an mir hängen. Nun ist der Arbeiteraufstand vom 17. Juni überhaupt nicht komisch. Auch nicht nach 69 Jahren. Unfreiwillig komisch sind höchstens Originalzitate, wie jenes von RIAS-Reporter Jürgen Graf, der damals live ins Mikrofon sagte, dass er sich ein Taxi nehmen wolle, um nun in die Revolution zu fahren. Irgendwie muss sich das gräfliche Taxi dann wohl verfahren haben, denn die Revolution fand nicht statt; und Kabarettist Wolfgang Neuss sah als Auslöser für den Aufstand die dem Volk immer noch fehlende Wurst in der Erbsensuppe. Hätte das Ulbricht-Regime anno 53 diese Würstcheneinlage nicht versemmelt, wären die russischen Panzer im Depot geblieben.

Und der 17. Juni wäre ein Datum ohne belastendes Filmmaterial geblieben. Allerdings wären die russischen Truppen auch nicht früher abgezogen. Immer wieder kommen mir bei diesem Thema Eberhard Diepgens goldene Worte im Radio in den Sinn. Der Hobbyhistoriker sagte 1994 im Radio, dass für ihn erst mit diesem Tag der Zweite Weltkrieg geendet habe. Die alte Pointe „Stell Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin“ zieht auch nicht mehr, weil der Krieg jeden Tag zu uns kommt. Er wird zur Normalität am Abendbrottisch. Die deutsch-ukrainische Schriftstellerin Katja Petrowskaja sagte im Februar im TV, dass der Krieg hier für uns in Deutschland bereits begonnen habe. Es war eine Formulierung, die mich jetzt noch erschüttert. Da lobe ich mir heute die Vergangenheit: Da weiß man, was man nicht mehr hat. Kaum diese Zeilen über den 17. Juni beendet, frage ich mich gerade: Was wird uns der 17. Juli bringen? Beim 18. Juli bin ich mir schon etwas sicherer: Da könnte ich den Geburtstag Georg Kreislers anbieten. 100 wäre der für mich größte Kabarett-Poet an diesem Tag geworden.

Eines meiner Lieblingslieder über verjagte Emigranten, wie sie sich die müden Beine vertreten und vertraten bringt absichtlich die Jahrhunderte durcheinander, weil die Namen und Länder austauschbar sind und Berühmtheit auch niemanden rettet.

„Schnitzler in Hollywood, Nestroy in Delft.
Ich in Somali Land, wenn Ihr mir helft.
Aber das Publikum liegt auf den Knien.
Oh, lieber Augustin, alles ist hin.“

Beim Augustin mitzusingen, fällt natürlich leichter. Das Lied über jenen fidelen Sackpfeifer, der 1679 der letzten großen Pestepidemie zum Opfer fiel – nachts fiel er nämlich stockbesoffen in einen Leichengraben, um anderntags putzmunter wieder aufzustehen und weiter zu saufen – ist der ideale Schutzpatron für Coronaleugner; wenn da nicht dieser gar nicht dumme Augustin-Vers am Schluss wäre:„O, Du lieber Augustin, Augustin, Augustin.

Jeder Tag war ein Fest.
Und was jetzt? Pest, die Pest.
Nur ein großes Leichenfest.
Das ist der Rest.“

Wer an dieser Stelle vom Mitsingen schon erschöpft ist, kann sich ja einem musikalischen Test unterziehen. Wer nämlich auf Youtube Max Regers Burleske OP.58 anklickt und spätestens in der 14. Minute das Volksliedthema vom lieben Augustin herauszuhören vermag, ist pumperl g’sund, wie die Wiener sagen. Also auf zum Pesttest: Am Flügel erlebt man das nicht nur wunderschön anzusehende, sondern noch dazu wunderschön spielende Duo Sonja and Shanti Sungkono.

Ihr

Ilja Richter

Ilja Richter

Seit dem 9. Lebensjahr berufstätig:
(1961/Renaissance-Theater Berlin)
Ab 1969 Deutschlands jüngster TV-Showman
im ZDF (HOT AND SWEET)
ab 1971 bis 82: DISCO SHOW bis 1982.)

Seit 1981 bis heute als Schauspieler/ Autor/Chansonnier tätig.

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© Foto: Pavol Putnoki