Berlin ist nicht nur Hauptsitz der Regierung, sondern eine der herausragendsten kulturellen Metropolen Europas. Es ist kein Wunder, dass inzwischen fast vier Millionen Menschen hier dauerhaft leben wollen und Millionen von Touristen unsere Stadt besuchen. Die Vielfalt an Museen, Theatern, Musicals, Kabaretts, Galerien, Opern, aber auch Clubs und andere Veranstaltungsorte sucht ihresgleichen. Der Kulturstandort Berlin in all seinen Facetten ist damit einer der größten Wirtschaftsmotoren der Stadt. Vieles ist direkt oder indirekt von ihm abhängig – ob Hotels, Restaurants oder die vielen kleinen Läden. Wir trafen den Kultursenator Dr. Klaus Lederer.

Mein/4: Anfang März spielte Corona noch keine große Rolle bei uns. Dann kam am 12. März abends die Anweisung, dass alles geschlossen werden soll. Wie haben Sie das erlebt?

Lederer: Unsere Häuser, die Kultureinrichtungen des Landes Berlin, wurden am 13. März geschlossen. Bei den ersten Berichten Ende Januar aus China über diese neuartige Krankheit dachte ich: „Ein solcher Virus könnte in einer globalisierten Welt – mit Flugverkehr, mit verkürzten globalen Distanzen durch Technik – nachhaltige, einschneidende Konsequenzen haben und auch hier etwas auslösen.“

Und dann passierte es. Die Veranstaltung, die mich unmittelbar zum Handeln veranlasst hat, war die Senatssitzung am Dienstag, dem 10. März, in der Prof. Frey, Prof. Kroemer und Prof. Drosten berichtet haben. Diese Sitzung war für mich tatsächlich ein regelrechter Wendepunkt. Auf der Rückfahrt vom Senat in meine Verwaltung wurde mir, weil das so eindringlich war, klar: Ich muss meine Leute zusammenholen, und wir müssen überlegen, wie wir jetzt mit dieser Situation umgehen.

Ich habe meiner Mathematiklehrerin im Nachhinein gedankt, dass sie uns die Exponentialfunktion so gut erklärt hat. Denn ich verstand: Wenn wir jetzt nicht handeln, dann kann jeder Tag weitere Hotspots mit sich bringen und das Problem so vergrößern, dass wir es auf der Ebene der gesundheitlichen Absicherung und intensivmedizinischen Betreuung nicht mehr bewältigt bekommen. Die schrittweise Schließung unserer Einrichtungen war einschneidend und eine extreme Ausnahmesituation. Man tritt ja an, um Kultur zu ermöglichen und nicht, um dichtzumachen.

Mein/4: Aus meiner Sicht leiten Sie das wichtigste Ressort in Berlin. Für mich hängt ein großer Teil der Wirtschaft mit Kultur zusammen. Sie haben jetzt Solidarpakt IV auf den Weg gebracht. Einrichtungen, die nun schon zwei Monate geschlossen haben, können Gelder für die nächsten drei Monate bekommen?  „Liquiditätshilfe wird sich je nach Art des Betriebes immer anders darstellen.“

Lederer: Bevor der Bund mit seinem Soforthilfeprogramm kam, haben wir uns zunächst darum gekümmert, dass vor allem auch die Freiberufler, die Solo-Selbstständigen und die Kleinstunternehmer Unterstützung bekommen. Das waren die „Berliner 5.000 Euro“, die man für die Aufwendungen zum Lebensunterhalt einsetzen konnte. Das hat der Bund bis heute nicht gemacht. Was ein riesiges Problem ist, weil wir einen dreistelligen Millionenbetrag rausgegeben haben, den wir nicht refinanziert bekommen und der natürlich auf eine kurze Zeit angelegt ist. Wenn sich die ganze Situation bis zum Jahresende nicht wirklich entspannt hat, müssten wir mindestens noch zweimal einen ähnlichen Betrag in die Hand nehmen. Das ist aus heutiger Sicht für eine Stadt wie Berlin nicht zu stemmen.

Trotzdem haben wir eine Bundesratsinitiative auf den Weg gebracht, die versucht, den Bund zu einer Öffnung seiner Programme zu bewegen. Augenblicklich sind wir mit dem Soforthilfeprogramm IV beschäftigt, das wir speziell für Kultur- und Medienbetriebe mit über zehn Beschäftigten aufgesetzt haben. Das Besondere an diesem Programm ist, dass es an Betriebe adressiert ist, die sonst nie mit öffentlicher Förderung arbeiten.

Mein/4: Wenn man das mal durch die 25.000 teilt, die im Schnitt pro Unternehmen oder Kulturstätte im Topf sind, dann haben wir 1.200 mögliche Förderungen. Viele wissen nicht, wie sie das schaffen sollen, auch wenn sie eine gewisse Förderung haben. Ich verstehe, dass Berlin das Geld nicht hat. Aber gibt es irgendeine Vision, die man diesen Leuten mitgeben kann, die vielleicht im Juli einfach weg sind?

Lederer: Diese 25.000 Euro sind der Regelbetrag, Ausnahmen sind möglich, wenn die Aufwendungen massiv höher sind. Es wäre aber ein Missverständnis, wenn man annehmen würde, dass Berlin mit dem Soforthilfeprogramm IV sämtliche ausgefallenen Einnahmen ausgleicht. Es geht um Liquiditätshilfe. Und Liquiditätshilfe wird sich je nach Art des Betriebes immer anders darstellen.

Ein Betrieb, der über große Räumlichkeiten verfügt, die mit hohen Fixkosten verbunden sind, wird möglicherweise einen anderen Unterstützungsbedarf haben als ein Kulturbetrieb, der einen überschaubaren Fixkostenbereich hat, aber trotzdem gefährdet ist, wenn wir ihn nicht unterstützen.

Deswegen rechne ich auch nicht damit, dass wir hier alle mit den bis zu 25.000 Euro abgesichert bekommen. Es wird auch Anträge mit 300.000 oder 400.000 Euro geben. Wir werden mit Wirtschaftsprüfern schauen, inwieweit diese Liquiditätsplanungen korrekt sind. Denn wir haben die Landeshaushaltsordnung zu beachten, und wir haben die Pflicht, mit öffentlichen Haushaltsmitteln transparent und sparsam umzugehen.

Nicht zuletzt ist es natürlich auch ein Gebot der Solidarität, nicht einzelne zu überkompensieren und dafür andere den Bach runtergehen zu lassen. Es ist, das muss man ganz klar sagen, eine Ausnahmesituation, die ich Zeit meines Lebens noch nicht erlebt habe.

Mein/4: Woran denken Sie da besonders?

Lederer: Es beginnt schon damit, dass wir versuchen müssen, Förderinstrumente zu etablieren, die nicht an normalen Förderbedarfen anknüpfen, etwa die künstlerische Exzellenz zum Ausgangspunkt nehmen, sondern die nur an der Corona-Betroffenheit von Kulturunternehmen anknüpfen – und zwar völlig unabhängig von der Frage, ob wir hier jemals mit ihnen zu tun hatten oder nicht.

Das hat hier im Haus zu durchaus spannenden Runden geführt, in denen sehr intensiv darüber nachgedacht wurde, wie wir das machen, weil wir ja keine Erfahrung damit haben. Keiner hat diese Erfahrung. Aber manche Menschen treibt das zu Höchstleistungen an. In meinem Haus ist das so.

Mein/4: Was unterscheidet das Vergabeverfahren von den 5.000-Euro-Zuschüssen?

Lederer: Es werden alle Anträge gesammelt und in zwei Teile sortiert: die bis zu 25.000 und die ab 25.000 Euro. Es wird bei beiden geschaut, ob die landesweite Ausstrahlung, die verlangt ist, tatsächlich gegeben ist. Irgendeine Grenze braucht es. Denn wir können nicht sagen: „Stellt mal alle Anträge.“ Wir mussten auch bei der Soforthilfe II lernen, dass wir die Zahl der Antragstellenden völlig falsch eingeschätzt haben. Nach fünf Tagen mussten wir die Notbremse ziehen. Im Grunde war das ein automatisiertes Verfahren nach einem Schnellcheck, um rasch und unbürokratisch zu sein – mit dem vielen Tausenden geholfen worden ist. Jetzt, bei der Soforthilfe IV, schauen wir, inwieweit die Liquiditätsplanung plausibel ist, und es wird eine kulturfachliche Einschätzung getroffen. Am Ende wird dann entschieden.

Mein/4: Ich habe selten so viel positive Resonanz erlebt und eine große Erleichterung. Ich habe mit vielen Solo-Selbstständigen gesprochen, mit Kulturschaffenden, mit Künstlern, die alle am Anfang in Panik verfallen sind. Mit diesen 5.000 Euro hat sich Berlin sehr viel Respekt erarbeitet, ist meine Einschätzung. Es ging rasch, wohlwissend, dass auch da Betrug stattfinden wird.

Lederer: Es wird geprüft. Niemand, der manipulativ rangegangen ist, kann sich sicher sein. Es herrscht augenblicklich Verunsicherung, weil die Bundesprogramme, die nachgekommen sind, keine Mittel zum eigenen Lebensunterhalt beinhalten, sondern nur betriebliche Aufwendungen. Vielen Solo-Selbstständige im Kulturbereich sind aber selbst ihr Betriebsvermögen, wenn man so will. Ihre Kompetenzen, ihre Kreativität, ihre Fähigkeiten. Die Betriebe zu erhalten heißt, diese Menschen zu erhalten. Und zwar sowohl was die Miete als auch was die Brötchen angeht. Das sorgt jetzt für ein bisschen Irritation, weil der Bund sehr hinterher ist, dass diese Regeln auch eingehalten werden und wir in Berlin explizit anders entschieden haben.

Mein/4: Denken wir mal an die Zukunft: Stichtag ist fürs Erste der 31.7. Viele sind dankbar für diese klaren, raschen Ansagen, sodass sie planen können. Was vielen Sorgen bereitet ist die Hygieneverordnung – wie lässt sie sich umsetzen? Denn sie merken: Mit der Abstandsregelung bekommen sie so wenige Gäste unter, dass sie nicht mal das Team vor Ort an dem Tag bezahlen können. Gibt’s da eine Idee?

Lederer: Die epidemiologische Situation ist wie sie ist. Wir werden nicht umhinkommen, sämtlichen Aktivitäten in unserer Gesellschaft bestimmte Regeln zugrunde zu legen, die die Ansteckungsgefahr minimieren. Und zwar solange, bis Impfstoffe und Medikamente gefunden sind. Wenn man das weiß, dann haben die Fragen „Was fassen wir an?“ und „Was lassen wir?“ zwei Dimensionen.

Die eine haben Sie schon genannt, das ist die ökonomische Dimension: Was ist eigentlich leistbar? Ist es sinnvoll, den Betrieb geschlossen zu lassen und am Ende eine große Party zu feiern, wenn der ganze Spuk vorbei ist – wenn man solange liquide bleibt? Ist es sinnvoll, jetzt unsere Einrichtung aufzumachen und sich mit einem Fünftel durchzuwurschteln, aber mehr Aufwand zu haben, um den Betrieb am Laufen halten?

Die künstlerische Dimension ist die andere. Didi Hallervorden sagt: „Wir spielen halt dreimal am Tag, ohne Pause.“ Andere sagen: „Was ist denn das für ein Theater, in dem zwischen Bühne und Publikum ein Zehn-Meter-Abstand gehalten werden muss, nur jede dritte Reihe und jeder dritte Platz besetzt wird, die Leute mit Masken sitzen und vorne auf der Bühne die Schauspieler im Drei-Meter-Abstand umeinander tanzen?“ Ist das die Kunst, die wir machen wollen? Oder ist es nicht der Gesellschaft den Spiegel vorhalten, wie miserabel die Situation angesichts der Pandemie tatsächlich ist?

Ich gestehe ganz offen: Damit sind wir noch nicht fertig. Da sind wir in vielen Gesprächen zu Öffnungsszenarien, auch auf Kulturministerebene. NRW hat ja schon gesagt: „Wir machen die Theater wieder auf.“ Der Intendant Kay Voges (Anm. d. Red.: Intendant Schauspiel Dortmund) sagte daraufhin, das hätte ihn völlig überrascht und so richtig wisse er nicht, damit umzugehen. Ich kann ihn verstehen. Wir können jetzt erst einmal Überbrückung für drei Monate gewährleisten. Alles Weitere wird zu verhandeln sein; ich setze mich dafür ein, dass wir auch für einen längeren Zeitraum in die Lage versetzt werden. Aber das entscheidet am Schluss das Abgeordnetenhaus.

Mein/4: Stichwort NRW und Solidarität. Was ich von vielen Schauspielern höre, die überall auftreten und natürlich mitbekommen, wenn NRW die Bühnen wieder aufmacht, in den anderen Bundesländern aber nicht. Wird es einen Rückweg unter den Kulturstellen in den Bundesländern geben, dass man sich auf eine gemeinsame Linie einigt oder ist der Zug abgefahren?

Lederer: Es ist eigentlich das Ziel der Kultusministerkonferenz, sich auf ein gemeinsames Gerüst aus Phasen und Szenarien zu verständigen. Aber es ist ja auch kaum jemandem entgangen, dass NRW im Konzert der Länder eine besondere Rolle gespielt hat. Ob sich daran etwas ändert oder nicht, vermag ich nicht zu sagen. Aber ich finde es schon gut, wenn die Bundesländer in der Art und Weise, wie sie die Dinge ermöglichen und wie Nothilfeprogramme geschaffen werden, auch in der Kommunikation mit dem Bund, möglichst nah beieinanderbleiben.

Mein/4: Was ist Ihre persönliche Einschätzung für die Zukunft der Kunst in Berlin? Was werden wir in den nächsten zwölf Monaten erleben?

Lederer: Wir werden in den Bereichen, in denen durch crowd management Aktivitäten wieder möglich sind – z. B. in den Galerien der bildenden Kunst, in den Museen, in den Gedenkstätten – sicherlich sehr viel Einfallsreichtum erleben, wie man den unmittelbaren Besuch auch mit digitalen Formaten oder für Corona-Bedingungen geeigneten Vermittlungsangeboten verbinden kann.

Wir werden im Bühnenbereich und im Bereich der Orchester erleben, dass wieder geprobt wird, wenn wir nicht weitere Wellen der Pandemie erleben müssen. Auch Freiluftveranstaltungen werden stärker genutzt, solange der geschlossene Raum an sich eine Gefahrenquelle darstellt. Und wir werden sicherlich erleben, wie ausprobiert wird, ob Theaterbetrieb und Corona Dinge sind, die sich miteinander vertragen.

Und ich glaube, es kann derzeit noch keiner sagen, ob das so ist – weder, ob es dafür ein Publikum gibt, noch ob das Theatererlebnis als solches in einem viertel vollen Saal mit Leuten mit Masken, auf die man von vorne schaut, und mit den entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen beim Spielen – ob ein solches Theatererlebnis noch etwas mit dem zu tun hat, was wir als Theater kennen. Die Kunstschaffenden haben ja einen Hang zu Kreativität. Insofern glaube ich schon, dass da noch die eine oder andere Überraschung im Topf ist.

Aber das Schönste wäre natürlich, wenn wir möglichst schnell zu Impfstoff und Medikament kämen und damit auch die Sorgen und Ängste derjenigen Menschen ausräumen könnten, die vielleicht nicht zu Unrecht davon ausgehen, dass Corona ihnen tatsächlich gefährlich werden kann.

Mein/4: Diese Bereitschaft, sich in das Risiko zu begeben, ob es nur um das Aufmachen geht oder ob die Leute sich vielleicht noch nicht trauen. Das ist ein wichtiges Argument.

Lederer: Das ist natürlich auch eine ökonomische Frage. An der Stelle zeigt sich im Übrigen, was am Kapitalismus tatsächlich nicht funktioniert, wenn die ökonomische Dimension wider gesundheitliche Vernunft und künstlerischem Anspruch zum Öffnen von Einrichtungen treibt, weil der Preis ansonsten wäre, gänzlich von der Bildfläche zu verschwinden. Dann ist etwas faul.

Darüber könnten wir im Laufe der Krise und danach nachdenken und die Schlussfolgerung ziehen, dass es nur begrenzt schlau ist, sich auf einen völlig selbstorganisierten ökonomischen Sektor zu verlassen, der insbesondere in solchen Situationen dermaßen anfällig ist, an dem aber auch die Vielfalt der Kunst, die Vielfalt der Presse, die Vielfalt der Medien hängt. Dann wird man auch ganz wichtige Funktionsmechanismen einer demokratischen Gesellschaft jenseits des freien Ökonomischen finden.

Mein/4: Vielen Dank für das Gespräch.

 

Alle Fotos: © Pavol Putnoki

Interview veröffentlicht in mein/4-Ausgabe 2/2020