Kultur im Kiez entdecken

Text & Fotos: Marc Lippuner

Eigentlich sollte der kulturelle Spaziergang durch Weißensee nur eine Folge umfassen. Es gibt jedoch architekturhistorisch und auch kulturell so viel zu entdecken, dass es den Umfang von vier Seiten schnell gesprengt hat. Und so widmen wir uns heute der Gegend um den Weißen See, werfen einen Blick in die Buschallee und schauen in das Industriegebiet im Moselviertel, bevor die Kieztour der nächsten Folge von der Weißenseer Spitze zum Jüdischen Friedhof führt.

Wir beginnen unseren Spaziergang durch das nordöstliche Weißensee am Bildungs- und Kulturzentrum Peter Edel. Die dreistöckige Villa wurde 1885 als Restaurant der Sternecker-Brauerei mit Zugang zum Park am Weißen See errichtet. 1892 erhielt das Gebäude seinen großen neobarocken Ballsaal, ab 1963 folgte die Nutzung als Kreiskulturhaus, das 1984 nach dem im Jahr zuvor verstorbenen jüdischen Schriftsteller Peter Edel benannt wurde. Nach längerer Zeit des Leerstands wurde es über mehrere Jahre denkmalgerecht saniert und vor einigen Monaten als Weiterbildungszentrum und Eventlocation wiedereröffnet.

Die historischen Brauereigebäude nebenan sind bereits vor einigen Jahren zu einem Wohnensemble umgebaut worden. Brauerei und Restauration entstanden, nachdem Rudolf Sternecker die angrenzende, Anfang des 19. Jahrhunderts als Gutsbesitz angelegte Parkanlage zu einem kolossalen Vergnügungspark umgestaltet hatte. Mittelpunkt des Areals war ein 1859 an der Südseite des Sees erbautes Herrenhaus, das im Volksmund bald „Schloss Weißensee“ genannt wurde. Im vielbesuchten „Welt-Etablissement“ boten eine bayrische Bierstube, ein Seetheater, Karussells, ein Riesenrad, eine Konzertmuschel, eine Rutschbahn und ein Ruderbootverleih zeitgemäßes, jedoch nicht ganz preiswertes Vergnügen. Nur wenige Jahre später entzog sich Sternecker einem Konkursverfahren durch Flucht. Über seinen weiteren Lebensweg ist nichts bekannt. Die nachfolgenden Betreiber konnten an den Anfangserfolg nicht anknüpfen, 1905 kaufte die Gemeinde Weißensee das Gelände und gestaltete es zum Bürgerpark um. 1919 brannte das sogenannte Schloss vollständig ab.

Läuft man heute um den Weißen See erinnert wenig an den einstigen Rummel. Am nördlichen Ufer des Sees steht die in den 1950er-Jahren errichtete Freilichtbühne mit ihrem markanten Zeltdach. Da die große, mit 2000 Sitzplätzen ausgestattete Bühne aufgrund von Lärmschutzauflagen nur selten bespielt werden darf, gibt es auf dem Hof dahinter seit vielen Jahren ein abwechslungsreiches, Filmvorführungen, Konzerte und Theateraufführungen umfassendes Open-Air-Programm, das an warmen Sommerabenden bis zu 200 Zuschauerinnen und Zuschauer in Liegestühlen erleben können. Liegestühle gibt es auch im seit 1912 existierenden Strandbad am östlichen Ufer des Weißen Sees. Mit einem Getränk in der Hand und den Füßen im aufgeschütteten Sand kann man hier Sommernächte mit DJ-Sets, Slam Poetry oder Comedy erleben. Ob Bertolt Brecht jemals hier baden war, ist ungewiss, gewohnt hat er mit seiner Frau Helene Weigel jedenfalls in den Jahren 1949 bis 1953 nur 300 Meter von der Badeanstalt entfernt in einer 1876 im neoklassizistischen Stil erbauten Villa an der Berliner Allee 185. Nachdem das Ehepaar in die Chausseestraße umgezogen ist, nutzte ein Rentnerklub der Volkssolidarität das Brecht-Haus, bevor das Kulturamt das Haus zu einer kommunalen Galerie umgestaltete. Seit 2004 in Privatbesitz, scheint es dem Verfall preisgegeben.

Brecht-Haus
Brecht-Haus,
Berliner Allee 185
Pfarrkirche Weissensee
Pfarrkirche,
Berliner Allee 182
Papageienhaus
Papageienhaus, Trierer Str. 8-18
Tautsiedlung Buschallee
Taut-Siedlung, Buschallee

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite steht die Weißenseer Dorfkirche, ein spätmittelalterlicher Bau mit neugotischer Überformung. Bombenangriffe vernichteten im Zweiten Weltkrieg die wertvolle Innenausstattung aus dem 16. Jahrhundert, bei der Restaurierung Ende der 1940er-Jahre erhielt das Gotteshaus eine moderne Innengestaltung. In der hinter der Kirche abzweigenden Trierer Straße, steht ein Wohngebäude, das aufgrund seiner mit farbigen Querstreifen versehenen Fassade Papageienhaus genannt wird. Der Architekt Bruno Taut schuf hier 1925/26 eine Wohnzeile, deren buntes Farbkonzept vermutlich auf einen Vorschlag des expressionistischen Malers Karl Schmidt-Rottluff zurückgeht. Weniger auffällig, in beige, dunkelrot, graugrün und weiß gehalten, aber nicht weniger eindrucksvoll, sind die viergeschossigen Häuserzeilen, die – ebenfalls nach Plänen Bruno Tauts – zwischen 1928 und 1930 über mehrere hundert Meter auf beiden Seiten der nahegelegenen Buschallee entstanden. Unverkennbar auch hier der Baustil der Moderne: Mit breiten, kastenartigen Loggien zur Straßenseite und großzügig angelegten, begrünten Innenhöfen. Eine ähnlich lange, allerdings in rotem Klinker gehaltene Fassade, findet man im Moselviertel einen halben Kilometer nördlich. Seit 2005 hat sich der dreistöckige Backsteinbau in der Liebermannstraße als Kreativstadt Weißensee zum größten Atelierhaus Berlins entwickelt, in dem etwa 350 nationale und internationale Künstlerinnen und Künstler arbeiten.

Kugellagerfabrik Riebe, Naumagener Str. 28
Gemeindebauten Woelckpromemade 4-7
Askania Hochhaus
Askania-Hochhaus, Berliner Allee 252-260
Filmateliers Weißensee
Ehemalige Filmateliers, Liebermannstr. 24-28

In dem Karree hinter dem Atelierhaus lassen sich eindrucksvolle Industriebauten entdecken, die vom Aufschwung des Maschinenbaus und der Elektrotechnik in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zeugen. In der Neumagener Straße entstanden zwischen 1913 und 1917 eine von Bruno Buch errichtete Werkzeugfabrik und mehrere Produktionsstätten für den Kugellagerfabrikanten August Riebe, der seine Büros in einem markanten Rundturm im Mittelgebäude einrichtete. Einen ähnlich auffälligen, leider nicht mehr erhaltenen Rundturm hatte auch die Ziehl-Abegg-Fabrik, die einige hundert Meter weiter an der Industriebahn ab 1921 Elektromotoren u. a. für die Luftschifffahrt entwickelte. Die 2000 Quadratmeter große Produktionshalle wird seit 1991 als Eventlocation für Konzerte, Modenschauen, Messen und Produktpräsentationen genutzt und firmiert heute als Motorwerk Berlin. Zurück ans andere Ende der Gehringstraße: Hier wurde Anfang der 1950er-Jahre die erste Berufsschule der DDR gebaut, deren altrosa verputzter Turm seinerzeit ein städtebauliches Wahrzeichen des Industriestandorts darstellte. Bis heute wird das Gebäude als Weiterbildungsstätte genutzt. Läuft man an der Berufsschule vorbei bis zur Berliner Allee, um in diese links abzubiegen, steht man vor dem Querriegel des Gebäudes, das heute die Kreativstadt beherbergt. Der l-förmige Komplex wurde zwischen 1939 und 1941 errichtet, als die Chemische Apparatefabrik Carl-Otto Raspe, die Ende der 1920er-Jahre die Riebe-Werke übernommen hatte, kriegsbedingt erweitern musste. Den Klinkerbau mit seinem siebengeschossigen Eckbau schuf der Architekt Richard Schubert. Das als Askania-Haus bekannte Gebäude verdankt seinen Namen den ausgebombten Askania-Werken, die hier 1943 angesiedelt wurden. Bis zum Kriegsende produzierte man auf dem Gelände Navigationsinstrumente und Observationsgeräte für die Luftwaffe. Nach einer Zwischennutzung durch die sowjetische Militäradministration brachte das Ministerium für Staatssicherheit zwischen 1953 und 1990 seinen Personen- und Objektschutz hier unter. Nach der Wende zog das Bezirksamt ein, einige Jahre lang hatte auch das Rathaus Weißensee hier seinen Sitz, wovon noch immer der goldene Schriftzug über dem Haupteingang zeugt.

Treppenhalle im Amtsgericht, Parkstr. 71

Quer über die Straße erinnert an der Berliner Allee 249 eine Gedenktafel an die filmische Vergangenheit Weißensees. Bevor hier Wohngebäude standen, errichtete die Vitascope-Filmgesellschaft 1913 die größte Filmproduktionsstätte Deutschlands. Bald darauf folgten weitere Filmfirmen, die nicht mehr in engen Dachateliers, sondern in großzügiger bemessenen, glasbedachten Filmhallen drehen wollten. In den nächsten Jahren entstanden hier bedeutende Produktionen der deutschen Stummfilmzeit, u. a. Anders als die Andern (1919), der erste Film, der Homosexualität offen thematisierte, oder das expressionistische Meisterwerk Das Cabinet des Dr. Caligari (1920). Mit dem Tonfilm endete die Geschichte der Filmstadt Weißensee. Die letzten Überreste Klein-Hollywoods kann man in der Liebermannstraße 24-28 entdecken. Das 1913 nach Plänen von Otto Rehmig erbaute Filmatelier wurde, nachdem es im Zweiten Weltkrieg stark beschädigt wurde, in vereinfachter Form wieder aufgebaut und als Wäscherei des VEB Rewatex genutzt. Heute sind hier Kreativ- und Kunstwerkstätten zu Hause. Nur wenige Meter weiter wurde 1999 ein dreieckiger Platz nach dem Stummfilmmogul Joe May benannt. Von hier aus sind es nur zwei Querstraßen zum nächsten architektonischen Highlight. An der Kreuzung Parkstraße/Große Seestraße steht der imposante Neorenaissancebau des Amtsgerichts, der zwischen 1902 und 1906 von Carl von Tesenwitz sowie Erich und Friedrich Möckel errichtet wurde. Bemerkenswert ist hier die spätgotisch gestaltete Treppenhalle mit Netzrippengewölben.

Zwei Straßenecken weiter steht an der Amalienstraße seit 1931 die erste Volksschule Weißensees, in der Jungen und Mädchen gemeinsam unterrichtet wurden. Der von Reinhold Mittmann entworfene Schulkomplex entspricht architektonisch der Moderne der 1920er-Jahre. Nur wenige Jahre zuvor wurde an der Woelckpromenade eine Wohnanlage mit begrüntem Innenhof nach Plänen von Josef Tiedemann angelegt, die an das barocke Holländische Viertel in Potsdam erinnert. Schaut man genau hin, sieht man, dass das Gebäude an der südwestlichen Ecke des Holländerhofes nicht ganz zum Bauensemble passt. Es gehört zur bereits 1912/13 entstandenen Wohnanlage an der Paul-Oestreich-Straße. Carl James Bühring schuf hier an der nach dem Weißenseer Bürgermeister Carl Woelck benannten Promenade das Gemeindeforum am Kreuzpfuhl, dessen Wohnzeilen mit ihren polygonalen Erkern Fans der Serie Babylon Berlin sofort erkennen dürften, wohnt hier doch Kommissar Gereon Rath. Rund um die kleine Parkanlage stehen weitere von Bühring entworfene Gebäude: die zwischen 1908 und 1910 erbaute Oberrealschule, die Feldsteine und verklinkerte Jugendstilelemente in der Fassadengestaltung kombiniert, das Ledigenwohnheim von 1913, das Schichtarbeitern preiswerte Schlafmöglichkeiten bot, sowie die Pumpstation mit Verwaltungsgebäude und Bibliothek von 1911, die ein sehr hohes Walmdach hat. Von der schwesterlichen Beziehung der letzten beiden Gebäude zeugen die Laubenvorbauten.
Von der Pumpstation führt der Weg geradewegs zum Mirbachplatz, in dessen Mitte die Ruine der im Krieg zerstörten Bethanienkirche steht. Von dem nach Plänen von Ludwig von Tiedemann und Robert Leibnitz im neugotischen Stil errichteten Gotteshaus, das 1902 eingeweiht wurde, blieb einzig der 65 Meter hohe Turm erhalten. Bereits vor zwanzig Jahren gab es Überlegungen, hier Wohnungen zu errichten, im Sommer 2022 haben die Baumaßnahmen begonnen.

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Marc Lippuner

leitet seit 2017 die WABE, ein Kulturzentrum im Herzen des Prenzlauer Bergs. Nebenbei frönt er mit den von ihm gegründeten Kulturfritzen, einem kleinen Projektbüro für kulturelle Angelegenheiten, seiner Berlinliebe: So hat er eine monatliche Radiosendung bei ALEX Berlin und einen wöchentlichen Podcast. Kürzlich ist sein Kalender Berliner Geschichte 2024 im Elsengold Verlag erschienen.

Für unser Magazin unternimmt er kulturelle Entdeckungsreisen durch Berliner Kieze, empfiehlt eine Handvoll Kulturevents, die man in den kommenden Wochen auf keinen Fall verpassen sollte, und stellt aktuelle Berlinbücher vor

Die Kulturfritzen