Folge 10:
Das Hansaviertel
Spricht man heutzutage vom Hansaviertel, ist zumeist das zur Interbau 1957 entstandene, südlich der Stadtbahntrasse gelegene Stadtquartier gemeint. Nördlich der Gleise erstreckt sich der Ortsteil jedoch noch bis zum Ufer der Spree und auch hier lohnt ein Spaziergang, bei dem man einen guten Eindruck von der gutbürgerlichen Gegend vermittelt bekommt, die das Hansaviertel ursprünglich gewesen ist.
Das Alte Hansaviertel war eines jener innerstädtischen Wohngebiete, die nach der Reichsgründung 1871 für wohlsituierte Bevölkerungsgruppen entstand. Während in den Arbeitervierteln, wie dem nördlich angrenzenden Moabit, Mietskasernen mit bis zu sieben Hinterhöfen aneinandergereiht wurden, legte die Berlin-Hamburger Immobiliengesellschaft auf unbebauten Überschwemmungswiesen nördlich des Großen Tiergartens und südlich der Spree ab 1874 ein attraktives Wohngebiet mit repräsentativen, zumeist zwei- oder dreistöckigen Blockrandbauten an, die kleine Vorgärten und großzügige Innenhöfe aufwiesen.
Fünf Jahre später wurden die ersten Straßen nach norddeutschen Städten oder in Hamburg wirkenden Persönlichkeiten benannt: zu Ehren der Gründergesellschaft, wegen der Nähe zum Hamburger Bahnhof und in Erinnerung an Berlins Jahrhunderte zurückliegende Hansetradition. Herzstück des Bebauungsplans war der sternförmige Hansaplatz, der dem neuen Bezirk seinen Namen gab, wenngleich im Volksmund von Beginn an vom Hansaviertel die Rede war. Bereits während der Erschließung wurde das Viadukt der Stadtbahn durch das Wohngebiet gezogen, das dadurch in zwei fast gleich große Hälften zerfiel, jedoch durch zahlreiche Unterführungen miteinander verbunden blieb.
Zur Jahrhundertwende hatte das Hansaviertel knapp 18 000 Einwohner, hier wohnten überwiegend „anspruchsvolle Leute“, neben Bankiers, Staatsbeamten und Kaufleuten auch zahlreiche Künstlerinnen und Künstler wie die Schriftstellerinnen Alice Berend und Else Lasker-Schüler, die Maler Lovis Corinth und Walter Leistikow, der Bildhauer Hugo Lederer, der Theatermacher Max Reinhardt und der Kritiker Alfred Kerr. Käthe Kollwitz hatte hier ihr Atelier, Rosa Luxemburg nahm im Hansaviertel für wenige Monate Quartier, ebenso Wladimir Iljitsch Lenin. Bemerkenswert war der Anteil der jüdischen Bevölkerung. In den 1920er-Jahren soll er mit 8 % doppelt so hoch gewesen sein wie im Gesamtdurchschnitt Berlins. Im Hansaviertel entstanden neben einer evangelischen und einer katholischen Kirche folgerichtig auch zwei Synagogen. Diese wurden in der Reichsprogromnacht am 9. November 1938 zerstört, mit der „Entjudung“ erlosch 1941 das jüdische Leben hier vollständig. Heute erinnern knapp 150 Stolpersteine an die deportierten und ermordeten Bewohnerinnen und Bewohner.
In der Nacht vom 22. auf den 23. November 1943 zerstörte die Alliierte Luftwache einen Großteil des Hansaviertels, nur 70 der 343 Wohnbauten überstanden den Krieg, die meisten davon schwer beschädigt. Im nördlichen Teil des Hansaviertels lässt sich heute noch das Mondäne des einstigen Viertels erahnen, zum Beispiel, wenn man am Holsteiner Ufer entlang flaniert und die schmuckvoll gestalteten Fassaden betrachtet. An der Ecke zur Bartningallee findet man in einem der wiedererrichteten Gebäude die – nach eigenen Angaben – älteste Konditorei Berlins, die in fünfter Generation betrieben wird. 1852 hatte Gustav Buchwald, der 1883 offiziell zum königlich-preußischen Hoflieferanten ernannt wurde, in Cottbus die nach ihm benannte Baumkuchenfabrikation mit Konditorei und Café eröffnet, sein Sohn erwarb das Haus mit Spreeblick um die Jahrhundertwende.
Während man nördlich der S-Bahn-Viadukte also noch ein wenig dem kaiserlichen Hansaviertel nachspüren kann, ist dies im südlichen Teil unmöglich, lediglich zwei Wohnhäuser sind in unmittelbarer Nähe des S-Bahnhofs Tiergarten erhalten. Das Hansaviertel galt in der Nachkriegszeit als größtes innerstädtisches Trümmergebiet.
Als der Bezirk Tiergarten 1951 mit Baumaßnahmen beginnen wollte, verhängte der Senat einen Baustopp, um West-Berlin mit einer großen deutschen Bauausstellung ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit zu rücken. Das Bauprojekt sollte einen ideologischen Gegenentwurf zum „falschen Prunk der Stalinallee“ darstellen, deren repräsentative, an sowjetischer Monumentalarchitektur orientierten Bauten zu dieser Zeit in Ostberlin als ästhetische und politische Versinnbildlichung der Leistungsfähigkeit des sozialistischen Systems entstanden. 1955 wurde nach langwierigen Verhandlungen ein luftiger Bebauungsplan als „klares Bekenntnis zur westlichen Welt“ verabschiedet. Die Interbau, die Internationale Bauaustellung 1957, bildete den organisatorischen Rahmen des Großbauprojekts, das jeweils sechs Punkt- und Scheibenhochhäuser, neun viergeschossige Wohnzeilen und zahlreichen Einfamilienhäuser vorsah. Zudem wurden zahlreiche Funktionsbauten errichtet, darunter eine Grundschule, eine Bibliothek, eine Ladenzeile und ein Kino, die letzten drei direkt verbunden mit dem neuen U-Bahnhof Hansaplatz, der im Rahmen der Interbau bereits besichtigt werden konnte.
An den ursprünglichen Standorten der Kirchen schufen Willy Kreuer und Ludwig Lemmer neue christliche Gotteshäuser, eine Synagoge entstand hingegen nicht, zu klein war die jüdische Gemeinde in Berlin zehn Jahre nach dem Ende des Holocaust. Architekten aus aller Welt zeichneten für einzelne Bauten des südlichen Hansaviertels verantwortlich: Neben deutschen Baumeistern wie Egon Eiermann, Paul Baumgarten, Hans Schwippert oder Max Taut sind der Brasilianer Oscar Niemeyer, der Finne Alvar Aalto oder der Italiener Luciano Baldessari vertreten. Auch der Bauhaus-Gründer Walter Gropius, seit 1944 US-amerikanischer Staatsbürger, hinterließ hier seine Spuren. Zwischen den Gebäuden setzte eine Vielzahl prominenter nationaler und internationaler Künstlerinnen und Künstler abstrakte und figürliche Akzente.
Kunst findet man auch im nördlichen Gebiet des Hansaviertels. So sind an den Pfeileraufbauten der Lessingbrücke August Jäkels Nachbildungen von Bronzereliefs des Bildhauers Otto Lessing zu sehen, die Darstellungen von Schlussszenen vier Lessingscher Dramen zeigen. Die ursprünglichen Kunstwerke wurde im Zweiten Weltkrieg eingeschmolzen, ebenso die bronzenen Bären auf der benachbarten Moabiter Brücke. Diese ersetzen seit 1981 vier gusseiserne Bären von Günter Anlauf. Des Weiteren finden Depeche-Mode-Fans Joachim Schmettaus Hand mit Uhr, die ihnen aus dem Musikvideo zu Everything Counts bekannt vorkommen dürfte, vor dem Gymnasium in der Altonaer Straße.
Wer Kunst und Kultur lieber in Innenräumen genießt, wird im denkmalgeschützten südlichen Hansaviertel fündig. Im Flachbau am nördlichen Ausgang des U-Bahnhofes war von 1957 bis 1974 das Kino Bellevue beheimatet. Seitdem hat hier das Kinder- und Jugendtheater GRIPS, dessen erfolgreiches Stück Linie 1 im April sein 35-jähriges Jubiläum feiert, ein Zuhause gefunden. Der Bühnenbildner Rainer Hachfeld gestaltete nach dem Einzug des Theaters die südliche Fassade mit einem Mosaik aus bemalten Fliesen. Am anderen U-Bahn-Ausgang steht die kürzlich sanierte Bibliothek Werner Düttmanns. Der Architekt realisierte auch, allerdings erst im Nachklapp der Bauausstellung, die Akademie der Künste am Hanseatenweg. Er selbst bezeichnete den Baukomplex als „klare, unpathetische Kiste“. Heute wird das Gebäude als Ausstellungs- und Veranstaltungsort sowie zu Verwaltungszwecken genutzt. Eine letzte und unbedingte Kulturempfehlung ist das Buchstabenmuseum, das seit 2016 im Stadtbahnbogen 424 residiert. Das Museumsprojekt hat zum Ziel, interessant typografische Leuchtreklamen, die zunehmend aus dem öffentlichen Raum verschwinden, zu sammeln und zu bewahren.
Text & Fotos: Marc Lippuner
Marc Lippuner leitet seit 2017 die WABE, ein Kulturzentrum im Herzen des Prenzlauer Bergs. Nebenbei frönt er mit den von ihm gegründeten “Kulturfritzen”, einem kleinen Projektbüro für kulturelle Angelegenheiten, seiner Berlinliebe: So hat er eine monatliche Radiosendung bei ALEX Berlin und einen wöchentlichen Podcast. Im Elsengold-Verlag erscheinen seit 2019 seine Wandkalender zur Berliner Geschichte. Für unser Magazin unternimmt er kulturelle Entdeckungsreisen durch Berliner Kieze, empfiehlt eine Handvoll Kulturevents, die man in den kommenden Wochen auf keinen Fall verpassen sollte, und stellt aktuelle Berlin-Bücher vor.