Folge 6:

Das Bayerische Viertel

Es gilt als eines der gediegensten Berliner Wohnviertel: Touristische Hotspots, originelle Cafés oder infrastrukturell durchorganisierte Shoppingmöglichkeiten sucht man im Bayerischen Viertel in der Tat vergebens. Dafür finden Kulturinteressierte hier eine spannende Mischung aus funkelndem Glamour und stillem Gedenken. Eine Entdeckungsreise zwischen KaDeWe und Bundesplatz.

Goldener Hirsch im Rudolph-Wilde-Park

Eine katastermäßig festgelegte Begrenzung gibt es für das Bayerische Viertel nicht. Bemüht man Onlinestadtpläne, zieht es sich vom Tauentzien bis zur Ringbahn zwischen Bundesplatz und Innsbrucker Platz, östlich durch die Martin-Luther-Straße und westlich durch die Bundesallee begrenzt. Somit gehört der westliche Teil zu Wilmersdorf, alles östlich der Bamberger Straße zu Schöneberg.

Die unscheinbare Geisbergstraße bildete früher die nördliche Grenze Schönebergs; das KaDeWe, 1907 eröffnet, stand also bis zur Gebietsreform 1938 in Charlottenburg. Bayerische Straßennamen existieren auch jenseits der oben genannten Markierungen. Darüber hinaus entdeckt man in Alt-Schöneberg, rund um den Barbarossa-Platz, durchaus architektonische Verwandtschaften. Außerdem tragen zahlreiche Straßen, vor allem südlich der Grunewaldstraße, österreichische und südtirolerische Namen, verweisen nach Salzburg, Innsbruck, Bozen oder Meran. Nun gehörten diese Städte einst zum Königreich Bayern, aber das war schon einhundert Jahre Geschichte, bevor hier überhaupt gebaut wurde. Und dann sind wiederum einige Straßen unweit der Martin-Luther-Straße nach Wirkungsstätten des Reformators benannt: die Wartburg, Speyer, Eisleben, Worms oder Eisenach. Wo also die Grenze ziehen?

Postkartenmotive im U-Bahnhof Bayerischer Platz

Ein guter Ausgangspunkt zur Erkundung des Bayerischen Viertels ist in jedem Fall der U-Bahnhof Bayerischer Platz. Im Zwischengeschoss dokumentiert eine Dauerausstellung mit großformatigen Fotografien und historischen Postkartenmotiven sowie applizierten Informationstexten die Geschichte jenes Wohngebiets, das von Georg Haberland, dem Direktor der Berlinischen Boden-Gesellschaft, auf bis dahin landwirtschaftlich genutztem Gelände in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts für ein großbürgerliches Publikum geplant und entwickelt wurde. Die Architektur orientierte sich an der verspielt-eleganten „Alt-Nürnberger Bauweise“ und viele Straßen erhielten bayerische Namen. Beides versprach Gediegenheit und Sicherheit – und beides half, eine finanzkräftige Bevölkerung in die damals noch selbstständige Stadt Schöneberg zu locken. Ein attraktives Quartier mit prachtvollen Schmuckplätzen, originellen Straßenverläufen und großzügigen Vorgärten entstand.

Während der Bauzeit veranlasste Schönebergs erster Oberbürgermeister Rudolph Wilde die Errichtung des heute nach ihm benannten Stadtparks, der das Viertel zusammen mit dem Volkspark Wilmersdorf im Süden als grünes Band durchschlängelt. Zeitgleich entstand auf seine Veranlassung innerhalb von nur zwei Jahren die erste kommunale U-Bahnlinie Deutschlands, die heutige U4, die 1910 ihren Betrieb aufnahm. Bis auf die beiden Endstationen liegen die drei übrigen Bahnhöfe im Bayerischen Viertel. Die Umsteigemöglichkeiten am Nollendorfplatz und mehrere Straßenbahnlinien, die den heutigen Innsbrucker Platz tangierten (der dortige S-Bahnhof entstand erst 1933) werden die Attraktivität der ruhigen Wohngegend maßgeblich erhöht haben.

Vertiefende Informationen zur Geschichte des Viertels und den Menschen, die dort lebten, erhält man an den Multimediastationen, die in dem nach dem Gründungsvater Haberland benannten, großzügig verglasten Café installiert sind, das seit fünf Jahren das neugestaltete südliche Eingangsgebäude des Bahnhofs krönt. Hier liegt auch eine Straßenkarte zur kostenfreien Mitnahme aus, in der die Adressen zahlreicher Prominenter, die im Bayerischen Viertel gelebt und gearbeitet haben, markiert worden sind. Viele Wohnhäuser zieren Gedenktafeln.

Gedenktafeln im Bayerischen Viertel

So erfährt man, wo Bertolt Brecht den Text der Dreigroschenoper schrieb, dass der Filmregisseur Billy Wilder im selben Haus lebte wie der Musiker Ferruccio Busoni, wo Ödön von Horvath 1931 logierte, wann die Kabarettistin Claire Waldoff, die Journalistin Inge Deutschkron, der chilenische Pianist Claudio Arrau, die Kleist-Preis-Trägerin Anna Seghers oder der Politiker Rudolf Breitscheid im Kiez lebten, dass der Journalist Egon Erwin Kisch am Tag der nationalsozialistischen Machtübernahme ausgezogen sein soll oder dass Erich Kästner nur aus seinem Fenster hat schauen müssen, um zu beschreiben, wie Emil und die Detektive sich mit dem Dieb, der sich Grundeis nennt, eine Verfolgungsjagd im Taxi liefern.

Neben vielen nicht genannten waren auch der Nobelpreisträger Albert Einstein und der dichtende Arzt Gottfried Benn Anwohner des Kiezes. Die beiden kauften ihre Bücher in der Buchhandlung, die nicht immer schon am heutigen Standort, aber nun doch bereits seit 100 Jahren am Bayerischen Platz existiert. Gegründet wurde sie von Benedict Lachmann, einem jüdischen Anarchisten und Schriftsteller, der 1937 sein Geschäft verkaufen musste und vier Jahre später nach Łódź deportiert wurde, wo er kurze Zeit später starb. Die heutige Besitzerin, Christiane Fritsch-Weith, die die Geschichte des Buchladens in dem Dokumentationsband Klein, aber voller Köstlichkeiten (Transit 2015, 17,80 €) aufgearbeitet hat, organisiert seit der Geschäftsübernahme vor 45 Jahren mit großem Erfolg Lesungen und Vorträge.

Ist der Andrang zu groß, weicht man in die nahegelegene Kirche zum Heilsbronnen aus, die bis zu 350 Personen Platz bietet. Hier wurde der Gemeindesaal kürzlich zum sogenannten HÖRSaal umgestaltet, der als neuer Veranstaltungsort im Kiez etabliert werden soll. Konzerte, Theateraufführungen, Lesungen und Vorträge sollen künftig das kulturelle Programm bestimmen. Mit ihrem 68 Meter hohen Turm ist die 1912 eingeweihte evangelische Kirche das zweithöchste Gebäude des Viertels und das einzige hier noch existierende historische Gotteshaus.

Denkmal von Gerson Fehrenbach

In den 1950er-Jahren wurden die Ruinen zweier Synagogen abgetragen: Das von Alexander Beer 1930 errichtete Gebäude in der Prinzregentenstraße, das 2.300 Gläubigen Platz bot, blieb der einzige Neubau einer Gemeindesynagoge im Berlin der Weimarer Republik. Es wurde während der Novemberpogrome 1938 niedergebrannt. Diesem Schicksal entging die wesentlich kleinere, von Max Fraenkel entworfene und bereits 1910 eingeweihte Synagoge in der Münchener Straße, da sie zu nah an Wohnhäusern stand. Sie wurde, wie ein Großteil des Bayerischen Viertels, in der verheerenden Bombennacht vom 22. auf den 23. November 1943 zerstört.

Denk-Stein-Mauer der Löcknitz-Grundschule

Ein 1963 von Gerson Fehrenbach gestaltetes Denkmal erinnert an das Gotteshaus, auf dessen Grundstück heute die Löcknitz-Grundschule steht. Seit 1995 recherchieren die Schülerinnen und Schüler der jeweils sechsten Klassen Biografien ehemaliger jüdischer Nachbarinnen und Nachbarn, von denen einst 16.000 im Bayerischen Viertel gelebt haben. Mehr als 6.000 von ihnen wurden 1943 in Konzentrationslager deportiert, viele gingen ins Exil oder wählten den Freitod. Die Kinder beschriften in Gedenken an sie Ziegelsteine mit Namen, Geburtsdaten und Sterbeort, die einer Denk-Stein-Mauer hinzugefügt werden – ein jährlich wachsendes Denkmal gegen das Vergessen.

Kirche zum Heilsbronnen hinter einer von Stih & Schnock beschilderten Laterne

Im Bayerischen Viertel findet man auch zahlreiche von Gunter Demnigs Stolpersteinen, die an das Schicksal von im Nationalsozialismus verfolgten, vertriebenen und ermordeten Menschen erinnern. Ein weiteres dezentrales Mahnmal kann man an 80 Straßenlaternen rund um den Bayerischen Platz entdecken. Hier sind in etwa drei Metern Höhe doppelseitig gestaltete Schilder befestigt, auf deren Textseite nationalsozialistische, antijüdische Verordnungen und Gesetze den schleichenden Prozess aufzeigen, der schlussendlich zum Holocaust führte. Die Rückseite der 1993 von Renata Stih und Frieder Schock konzipierten Schilder zieren assoziative Piktogramme, Bilder und Symbole.

Ausstellung im Rathaus Schöneberg

Seit 2005 ergänzt die Ausstellungsinstallation Wir waren Nachbarn – Biografien jüdischer Zeitzeugen die bereits genannten Projekte der Aufarbeitung jüdischer Geschichte im Bezirk Schöneberg-Tempelhof: 172 biografische Alben geben derzeit, gestützt auf Interviews, Dokumente, Briefe und Fotos, Auskunft über sehr unterschiedliche Lebenswege bekannter und unbekannter jüdischer Persönlichkeiten. Zu sehen ist die Installation, die fortwährend weiterentwickelt wird, in der großen Ausstellungshalle des Schöneberger Rathauses, das mit seinem markanten 70 Meter hohen Turm das höchste Gebäude im Bayerischen Viertel darstellt.

Rathaus Schöneberg

1914 von dem Architektenduo Peter Jürgensen und Jürgen Bachmann erbaut, war es bis zur Gründung Groß-Berlins das Rathaus der kreisfreien Stadt Schöneberg. Von 1949 bis 1991 hatte der regierende Bürgermeister Westberlins hier seinen Amtssitz, in der Zeit der Berliner Teilung war es auch Tagungsort des Berliner Abgeordnetenhauses. Hier bekannte John F. Kennedy am 26. Juni 1963: „Ich bin ein Berliner!“, hier begannen am 2. Juni 1967 die Demonstrationen gegen den Schahbesuch, hier läutet bereits seit dem 24. Oktober 1950 täglich um 12 Uhr die von 17 Millionen US-Bürgerinnen und -Bürgern durch Spenden finanzierte Freiheitsglocke.

Funkhaus am Hans-Rosenthal-Platz

Immer sonntags um 11:59 Uhr ist die Glocke zusammen mit dem Freiheitsgelöbnis im Deutschlandfunk Kultur zu hören. Die Ausstrahlung geht auf eine Tradition des Senders RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor) zurück, der aus dem nur 800 Meter entfernten Funkhaus am heutigen Hans-Rosenthal-Platz sendete. Das Gebäude mit der charakteristischen Kurve wurde Ende der 1930er-Jahre von Walter Borchard als Bürohaus der Bayerischen (!) Stickstoffwerke AG errichtet. Zwischen 1948 und 1993 beherbergte es den RIAS, der nicht nur das sonntägliche Senden des freiheitlichen Glockengeläuts, sondern auch die Räumlichkeiten dem jetzigen Deutschlandfunk Kultur überließ.

Wer nach so viel Geschichte noch Lust auf Geschichten hat, könnte ins Kino oder ins Museum gehen, denn beides gibt es auch im Bayerischen Viertel: Im südwestlichsten Eck befindet sich seit mindestens 100 Jahren ein Lichtspielhaus: Ob das Bundesplatz-Kino 1919 oder doch schon 1913 eröffnet wurde, ist ungewiss; gewiss ist, dass in dem 87 Plätze fassenden Saal Filme fernab des Mainstreams gezeigt werden. Neben aktuellen Arthouse-Streifen ergänzen filmhistorische Retrospektiven das Programm. So werden hin und wieder Raritäten des Nachkriegskinos aus Ost- und Westdeutschland noch einmal auf die große Leinwand zurückgeholt. Da wird sicher auch schon der eine oder andere mit Hildegard Knef dabei gewesen sein. Vielleicht war die Schauspielerin, die als „Die Sünderin“ 1951 Filmgeschichte schrieb, in jungen Jahren sogar Besucherin dieses Kinos? Sie absolvierte jedenfalls nur einige Gehminuten entfernt die Mittelschule.

René Koch in seinem Lippenstiftmuseum

Nicht viel weiter muss man laufen, um Hildegard Knef auch heute noch nahe zu kommen. In der Helmstedter Straße 16 hat der Starvisagist René Koch, ein langjähriger Freund der 2002 verstorbenen Diva, vor einigen Jahren sein Lippenstiftmuseum eröffnet, in dessen Kussmundkartensammlung sich auch ein Lippenabdruck der Knef befindet. Darüber hinaus gibt es eine Anzeige, in der sie in den 1950er-Jahren Werbung für den „Volkslippenstift“ macht. Ein lachsfarbenes Exemplar aus ihrem Besitz soll der Grundstock für Kochs umfangreiche Sammlung gewesen sein, die unter anderem auch eine Handvoll Lippenstifte aus dem Nachlass Evita Perons beinhaltet. Ein Besuch des Museums ist nur nach Voranmeldung möglich, der Hausherr führt dafür aber auch selbst durch die Räumlichkeiten und gibt zahlreiche Anekdoten aus seinem ungewöhnlichen Leben und dem Showbusiness zum Besten.

Und so lässt sich im Bayerischen Viertel, das die hier wohnende Schriftstellerin Monika Maron Leuten aus Mitte oder Prenzlauer Berg gegenüber gern als „ziemlich piefig“ beschreibt, in bester Gediegenheit dochentdecken. Von unterhaltsamen Geschichten bis zu mahnender Geschichte – der Besuch eines Kiezes, in den man sich eigentlich nur verirrt, wenn man jemanden besucht, hält manchmal mehr Überraschungen bereit, als man anfangs glauben mag. Vielleicht sogar für jene, die schon jahrelang hier leben.

Text & Fotos: Marc Lippuner

 

Marc Lippuner hat Germanistik, Geschichte sowie Kultur- und Medienmanagement studiert. Nach Jahren als Theatermacher leitet er seit 2017 die WABE im Herzen von Prenzlauer Berg. Nebenbei frönt er mit den von ihm gegründeten Kulturfritzen, einem kleinen Projektbüro für kulturelle Angelegenheiten, seiner Berlin-Liebe.
Im Frühjahr erschien im Elsengold-Verlag sein Spaziergangsführer für den Großbezirk Pankow. Derselbe Verlag gibt auch seine Wandkalender zur Berliner und zur deutschen Geschichte heraus.
Seit Januar 2020 hat Marc Lippuner mit „Die Kulturfritzen – eine Stunde Berlin-Kultur“ bei ALEX Berlin (UKW 91null) eine monatliche Radiosendung.
Für unser Magazin mein/4 begibt er sich regelmäßig auf kulturelle Entdeckungsreisen durch die Berliner Kieze, darüber hinaus empfiehlt er eine Handvoll Kulturevents, die man im kommenden Quartal seiner Meinung nach auf keinen Fall verpassen sollte.