„Kurz und knapp“ ist eine Interview-Serie des Berliner Fotografen Jens Wazel.
Kurz und knapp … wer bist du?
Ich bin Autorin und Regisseurin.
Letztes Jahr erschien dein Buch Kinder von Hoy, worum geht es?
Es ist ein dokumentarischer Roman, in dem es um meine Generation geht, um eine Gruppe von Leuten, die in den 60ern und 70ern in der sozialistischen Planstadt Hoyerswerda aufwächst, dort später die Kulturszene mit aufbaut, und dann durch die Wende und das Pogrom aus ihrem Leben herauskatapultiert wird.
Was für eine Szene war das?
Heute würde man wohl „linke Kulturszene“ sagen, ursprünglich entstanden um Gerhard Gundermann und die Brigade Feuerstein. Das Besondere war, dass es keine Prenzlauer-Berg-Szene war. Ich nenne es „proletarische Bohème“: nachts mit Rotwein im Klubkeller sitzen, diskutieren und Kunst machen, und morgens in den Schichtbus.
So wie Gundermann …
Genau, der hat ja auch als Baggerfahrer im Tagebau gearbeitet und dann seine Kunst gemacht.
Bist Du selbst in Hoyerswerda aufgewachsen?
Ich bin in Hoyerswerda zur Schule gegangen und habe dort meine Jugend verbracht. Dann habe ich in Leipzig gewohnt, war viele Jahre Leiterin des Filmprogramms bei DOK Leipzig, wohne jetzt aber auch schon lange in Berlin.
Das Buch ist eine ungewöhnliche „Oral History“ …
Ich habe vor 17 Jahren angefangen, meine Kindheitserinnerungen aufzuschreiben. Da gab es zuerst nur meine eigene Stimme, aber die hat von Anfang an im „Wir“ gesprochen, es gab kein „Ich“. Später habe ich dann auch Interviews mit Leuten aus meinem engen Freundeskreis gemacht und die sind dann als O-Töne in das Buch gekommen. Es ist so etwas wie ein Entwicklungsroman: Wir lernen die Protagonisten kennen, wenn sie Kinder sind und begleiten sie bis in die Gegenwart.
Warum reden die Protagonisten Dialekt?
Es wäre nicht das Gleiche, wenn sie auf Hochdeutsch erzählen würden, denn wenn ich mich gewählt ausdrücke und nicht mehr „ooch“ sage, sondern „auch“, werde ich insgesamt meine Worte anders wählen. Es war aber auch ein Kampf, weil einige der Protagonisten gesagt haben: „Wie kannstn du so was offschreiben, ich sprech doch gar ni so.“
Das hat für mich auch eine politische Komponente. Gerade die „südöstlichen“ Dialekte sind extrem diskreditiert und es macht etwas mit den Menschen, wenn ihnen 30 Jahre lang erzählt wird, dass sie nichts wert sind und dass es falsch ist, wie sie sprechen.
Du hast als Erzählerin gleichzeitig Distanz und bist sehr nah dran …
Wenn mein Buch ein Film wäre, wäre es ein Dokumentarfilm, keine Dokumentation. Es muss in der Kunst immer eine Metaebene geben: Was erzählt mir dieses Kunstwerk über sein Thema hinaus, was erzählt es mir über mich als Mensch, über uns als Gattung? Die Frage der „conditio humana“ muss da sein, auch wenn ich über eine Hausgemeinschaft in ihrem Keller in der Albert-Schweitzer-Straße im WK 5 E in Hoyerswerda schreibe. Letztendlich geht es um Menschen, die irgendwo reingeboren werden und dann versuchen müssen, mit ihrem Leben klarzukommen und auch aus widrigen Umständen etwas zu machen.
Du hast auch einen Dokumentarfilm über Gundermann gemacht …
Ich war erst als Beraterin an Bord, dann sollte ich Co-Autorin sein, dann Co-Regisseurin und am Ende wurde die Regie daraus. Es war sehr hilfreich, dass ich mich schon für das Buch sehr viel mit Hoyerswerda beschäftigt hatte.
Der Film heißt Gundermann Revier?
Ja, und nicht Gundermanns Revier, weil beide für sich stehen: Der Gundermann und das Revier sind eigenständige Protagonisten. Teil meiner Arbeitsweise ist es, dass die Welt im Wassertropfen sein muss. Und der Wassertropfen ist meine Schaukel in einem Garten, der später weggebaggert wird und auf dem Bagger sitzt jemand wie Gundi – was macht das mit uns beiden? Diese gemeinsame Geschichte war der Ausgangspunkt und auch die Landschaft, die sich immer wieder umgräbt.
Ich hatte nicht den Anspruch, investigativ neue Sachen über Gerhard Gundermann herauszufinden, mir ging es eher darum, das Bekannte in einen anderen Kontext zu stellen, ihn auch als Visionär zu zeigen und zu fragen „Was sind das für Visionen?“ und „Was hat das mit uns zu tun?“
Kanntest Du ihn persönlich?
Gundi hat im Betrieb meiner Mutter gearbeitet und sie hat immer erzählt, dass er mal wieder Ärger hatte, weil er sagt, was er denkt. Man konnte ihn auch nicht beschützen, denn wenn jemand gesagt hat „der Gundi hat das nicht so gemeint“, dann kam der Kollege Gundermann und hat gesagt „Ich habe das genau so gemeint.“
Selbst kennengelernt habe ich ihn bei Poetenseminaren der FDJ, wir haben manchmal nächtelang diskutiert. Ich habe mich dann Zeit seines Lebens, bis er 1997 starb, immer freundschaftlich mit ihm gezofft. Er war kein einfacher Freund und wir waren oft nicht unbedingt einer Meinung, aber es war immer wichtig, mit ihm zu sprechen.
DER SPIEGEL schrieb über dich: “die wichtigste Stimme dieser Generation Ost” …
Ich rede gerne über den Osten und erlebe dann sehr oft, dass Leute sich gesehen fühlen. Das ist so wichtig für Menschen und es macht etwas mit einem Land, wenn das 30 Jahre lang nicht passiert. Ich bekomme viele Briefe und Nachrichten, in denen Leute mir ihr Leben erzählen, das sind oft gebrochene Biografien. Auch bei mir hatte sich biografisch viel angesammelt und ich habe irgendwann gemerkt, dass ich meine eigene Geschichte im großen Narrativ nicht wiederfinde.
Wie kommt das Thema im Westen an?
Im Westen zu lesen oder den Film zu zeigen ist schwerer, weil da niemand unvoreingenommen ist. Das ist keine einseitige Schuldzuweisung, weil das ja die Art ist, wie wir uns begegnen. Und natürlich gibt es Vorurteile, weil in den letzten 30 Jahren ein bestimmtes Bild gezeichnet worden ist. Man muss immer erstmal über diese Mauer klettern und das ist anstrengend, aber dafür macht man es ja auch. Und es gibt auch da immer lange Gespräche.
Im Osten ist es ein Heimspiel, am meisten natürlich in Hoyerswerda oder in der Lausitz. Es ist nicht so, dass wir alle das Gleiche fühlen oder denken – es hat auch jeder Ostler einen anderen Blick auf die DDR – aber wir sprechen da schon eher mit einer Stimme, auch wenn die Abstufungen hat.
Bist Du noch oft in Hoyerswerda?
Seit ein paar Jahren bin ich mit einem Bein wieder zurück in Hoyerswerda, ich habe da einen Garten und mein soziales Leben findet eigentlich eher dort statt. Ich habe das Gefühl, dass da gerade sehr viel passiert und man sehr viel mitgestalten kann. Das Gefühl habe ich in Berlin nicht.
Warum?
Jetzt kommt der Kohleausstieg, es wird sich noch einmal alles wandeln. Aber anders als nach der Wende, wo es um Abwicklung ging mit Betriebsschließungen und Massenentlassungen, gibt es jetzt das Gefühl: Wir lassen uns das nicht noch einmal aus der Hand nehmen, wir gestalten das selbst. Früher gab es durch die Kohle in Hoyerswerda eine Monokultur und das Falsche wäre jetzt eine neue große Industrie, besser wären Dezentralisierung, Gemeinschaften, Bürgerschafts-Engagement.
Es gibt Kulturprojekte in Hoyerswerda wie Eine Stadt tanzt oder den Bürgerchor, wo jeder mitmachen kann. Das ist etwas anderes, als wenn in Berlin eine Elterninitiative eine Kita gründet. Das ist auch toll, aber es sind dann eben alles junge Eltern, meistens aus einer bestimmten Schicht. In Hoyerswerda ist der Jüngste 6 und die Älteste 90, und es sind alle sozialen Schichten vertreten.
Klingt wie Sozialismus, auf eine gute Art …
Es ist schon manchmal ein bisschen so, wie man es gewollt hätte.
Wie siehst du deine Rolle?
Ich kann vieles von zwei Seiten sehen, auch von außen, und kann deshalb Dinge oft viel mehr wertschätzen als die Leute vor Ort, eben auch das Gute. Es gibt natürlich auch vieles, was mich nervt und wo ich denke, da müsste man jetzt in Berlin überhaupt nicht drüber reden.
Was kommt als Nächstes?
Ich habe in meinem Leben nie darüber nachgedacht, was ich werden möchte oder was ich im nächsten Jahr mache. Es hat sich immer alles ergeben, weil ich mich für Dinge interessiere und mich dann in ihnen vergrabe. Und dann passiert irgendetwas. Ich beschäftige mich schon seit vielen Jahren mit den Sorben und sorbischen Filmen, und als Nächstes kommt jetzt ein Dokumentarfilm über unsere sorbischen Wurzeln, über Identität und Kolonialisierung. Und es wird ein Buch zur Geschichte des sorbischen DEFA-Films geben.
Vielen Dank!
Video: www.jenswazelphotography.com/Series/Stories/Grit-Lemke
Grit Lemke
ist Autorin, Regisseurin und Kuratorin. Ihr Film Gundermann Revier wurde 2020 für den Grimme-Preis nominiert. Ihr Buch Kinder von Hoy erschien 2021.
Jens Wazel
ist Fotograf und Videofilmer. Im Osten aufgewachsen, wohnt er nach 25 Jahren in den USA wieder in Berlin.