Kollwitz’ Atelier war dort zunächst bis 1912, also etwa 20 Jahre lang, und dann ab 1934 für weitere neun Jahre. Das sind fast 30 Jahre leben und künstlerisch arbeiten im Kiez, eine lange Zeit. Käthe Kollwitz beobachtete die Menschen, guckte ihrem Alltag zu, nahm ihre Lebenswirklichkeit wahr. Ob in der Praxis ihres Mannes oder in den damals schon vollen, lauten Straßen und überfüllten Strassenbahnen, ob in Wärmestuben und Obdachheimen, die in der Nähe waren, sie sah kranke, arme, verelendete Menschen, sie sah – insbesondere während und nach dem 1. Weltkrieg – trauernde, verzweifelte, von harter Arbeit geschundene Menschen. „In ihren Bildern ‚hört‘ man das Geräusch des damaligen Berlin, das schlägt sich in ihren Blättern nieder“, sagt Kuratorin Krenzlin.

Käthe Kollwitz war auch verbunden mit dem familien- und stadtzentrierten Leben, Ihre Biografie vermelde nur wenige Reisen, sie suchte keine Ablenkung, schreibt Alexander Haeder in seinem Beitrag im Begleitbuch zur Ausstellung. Und Michael Bienert notiert in seinem Artikel, Kollwitz habe viele Motive und Modelle in der näheren Umgebung ihrer Wohnung gefunden, „aber sie reiste auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln durch die Stadt, um mit ihrem Mann an Demonstrationen teilzunehmen oder Augenzeugin von Arbeiterprotesten zu werden“. Schon ihr berühmter Bilderzyklus über die Weber, mit dem sie schlagartig bekannt wurde, orientierte sich an Ausbeutung und WIderständigkeit, später hat sie auch Revolutionäre vor dem Brandenburger Tor gezeichnet (zugleich das Titelbild des Begleitbuchs) oder den Kohlenstreik in Moabit, ebenfalls in der Ausstellung zu sehen.
Sie nahm mit ihrer Kunst einen Standpunkt ein, aber von anderen vereinnahmen liess sie sich wohl nicht. Ihre Sicht war humanistisch, am Menschen interessiert, eher liberal, wie es im Begleitbuch auch heißt. Dieses Interesse setzte sie mit so großer Empathie, mit so viel Mitgefühl um, wie kaum ein Künstler vor ihr – und auch fast keiner nach ihr, wie Kathleen Krenzlin betont, das sei die ganz große Stärke von Kollwitz gewesen. Schon zu Lebzeiten sei Kollwitz in beiden gesellschaftlichen Lagern populär gewesen, bei den Bürgerlichen wie in der Arbeiterschaft. Durch ihren schnellen Erfolg war sie zum einen bei Museen und Kunstschulen akzeptiert und angesehen, zum anderen war sie als Person schon früh politisch interessiert und engagiert. Auch darauf gehen Ausstellung und Buch ausführlich ein.

Ein Beitrag setzt sich damit auseinander, ob sie als proletarische Künstlerin zu sehen ist, und wie sich die Deutungen der Künstlerin im Laufe der Jahrzehnte änderten; auch ihre durchaus differenzierte Haltung zur Sowjetunion wird thematisiert. Kollwitz gründete den alternativen Künstlerverbund Berliner Secession mit und war auch die allererste Frau in dessen Vorstand. Zudem wurde sie in die Akademie der Künste berufen – aus der sie 1934 die Nazis herausscheuchten, weil sie sich an Aufrufen gegen Nazis und Krieg beteiligte, gemeinsam mit Albert Einstein und anderen. (Daher auch die Rückkehr mit ihrem Atelier nach Prenzlauer Berg, nachdem sie von 1921 bis 1934 erst in einem Atelierhaus, dann in der Akademie (heute UdK Hardenbergstraße) und schließlich in der Klosterstraße arbeiten konnte, was ihr nach dem faktischen Berufsverbot durch die Nazis nicht mehr möglich war).
Ihr Bruder Conrad Schmidt war aktiv für den Aufbau der heutigen Volksbühne engagiert, ihr Mann Karl war Mitglied im Sozialistischen Ärzte Verband – all das brachte politisches Leben in die Familie, das prägte und das hatte natürlich viel mit Berlin zu tun. Im Krieg musste sie dann – ihr Mann war bereits verstorben – das angestammte Wohnhaus verlassen, Käthe Kollwitz starb 1945 in Moritzburg bei Dresden. Heute steht ein Neubau, das alte Haus wurde ausgebombt und wurde abgetragen, womit auch sehr viele ihrer Arbeiten verloren gingen.
Und was gibt uns die Kunst von Käthe Kollwitz heute? „Wir haben hier sehr lange keinen Krieg erlebt, aber die Wellen der Flüchtenden führen uns das Elend, das Krieg und Vertreibung auslösen, sehr deutlich vor Augen, denn genau davor fliehen die Menschen, sagt Krenzlin: „Ihre Themen sind sehr aktuell.“ Zudem könne man an ihrer Arbeit sehen, was eigentlich Kunst ausmache. „Käthe Kollwitz ging hart mit sich ins Gericht, sie hat oft neu angesetzt, probiert, an der Kunst regelrecht gearbeitet, denn man schafft es ja oft nicht auf Anhieb. Das sieht man ihren finalen Werken nicht immer gleich an, aber weil wir ja viele erhaltene Skizzen und Vorarbeiten zeigen, erkennt man das.“