Folge 7:
Das Rheingauviertel
Der Rheingau ist für seinen guten Wein bekannter als für seine Sehenswürdigkeiten und Kulturveranstaltungen. Ähnlich verhält es sich mit dem Berliner Rheingauviertel, nur dass es hier in diesem Jahr auch mit dem guten Wein leider nichts wird. Wenngleich der gesellige Alkoholgenuss am Rüdesheimer Platz vorerst ausfallen muss, lohnt ein sommerlicher Streifzug durch den Kiez, in dem sich einige architektonische Perlen verstecken.
Das Rheingauviertel ist die südlich der A 100 gelegene Ausbeulung des Ortsteils Wilmersdorf. Glaubt man der New York Times, findet man hier mit der unscheinbaren Rüdesheimer Straße die schönste Straße Berlins. Der Verdacht liegt nahe, dass der Autor sich beim Rheingauer Weinbrunnen ordentlich berauscht und dann Platz und Straße verwechselt hat. Dieses Jahr wäre ihm das nicht passiert, denn das beliebte Weinfest, das hier seit 1967 traditionell in den warmen Monaten stattfindet und allabendlich hunderte von Gästen anzieht, fällt – wie so viele andere gastronomische Geselligkeiten – coronabedingt aus.
Betrachtet man die Gegend nüchtern, muss man zugeben: Was der Rüdesheimer Straße fehlt, hat der gleichnamige Platz, der in der Tat ein sehr idyllischer Ort ist. Dominiert wird der Schmuckplatz von einer großen aus Sandstein geschaffenen Brunnenanlage, die Carl Cauer d. J. vor gut 110 Jahren gestaltete. Sie zeigt Siegfried als athletischen Rossbändiger, nackt und – wohl eher vandalismus- denn witterungsbedingt – seit Jahren seines Geschlechtsteils beraubt. Flankiert wird der Nibelungenheld von menschlichen, ebenfalls unbekleideten, wohlproportionierten Allegorien des Rheins und der Mosel.
Der Rüdesheimer Platz wurde bereits in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts als gesellschaftliches Zentrum des Wohnviertels geplant, das, durch reformerische Ideen und dem englischen Landhausstil inspiriert, in den Folgejahren als Gartenterrassenstadt entstehen sollte: Einer durch breite Vorgärten aufgelockerten Bebauung mit von Kletterrosen verzierten Fassaden, „wo der Großstadtmensch idyllisch und doch in unmittelbarer Fühlung mit der Großstadt wohnen kann.“ Für die Außengestaltung der Wohnhäuser verpflichtete Georg Haberland, der mit seiner Berlinischen Boden-Gesellschaft zeitgleich auch das Bayerische Viertel bebaute, seinen Hausarchitekten Paul Jatzow, der durch gleichmäßig festgesetzte Dachlinien und einheitlichen braungelben Mörtelputz ein architektonisch geschlossenes Ensemble schuf, jedem Straßenzug jedoch durch variierende Fachwerkelemente, verspielte Erker-, Balkon- oder Giebelformen sowie unterschiedliche Sprossenfenster individuellen Charakter verlieh.
Südöstlich des Südwestkorsos entstand zwischen 1927 und 1930 eine fassadenfarblich an die Gartenstadt angelehnte Wohnsiedlung, die von der Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger und dem Schutzverband deutscher Schriftsteller errichtet wurde, um Künstlerinnen und Künstlern, von denen viele auch vor 90 Jahren schon sozial nur unzureichend abgesichert in prekärem Wohlstand lebten, preiswerten Wohnraum zu bieten. Ernst Bloch, Peter Huchel, Erich Weinert, Johannes R. Becher, Walter Hasenclever, Ernst Busch, Lil Dagover, Henny Porten oder Klaus Kinski sind nur einige der einstigen Bewohner, die in der sogenannten Hungerburg lebten, die meisten davon, bevor sie berühmt wurden oder emigrieren mussten. Über die Geschichte der Wilmersdorfer Künstlerkolonie hat der Liedermacher und Autor Manfred Maurenbrecher, hier aufgewachsen und vor einem Vierteljahrhundert in die Wohnung seiner Kindheit zurückgekehrt, ein anekdotenreiches, kleines Buch geschrieben (Künstlerkolonie Wilmersdorf, be.bra 2016, 10 €). Zusammen mit der Gartenstadt steht die Künstlerkolonie seit 1990 unter Denkmalschutz.
Ebenfalls unter Denkmalschutz steht, wenngleich erst seit drei Jahren, der architektonische Gegenpol zur pittoresken Wohngegend zwischen Rüdesheimer und Breitenbachplatz: Die Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße. Das umgangssprachlich als „Schlange“ bezeichnete Bauensemble aus den späten 1970er Jahren übertunnelt auf 600 Metern die Autobahn 104. Das terrassenförmig angelegte Betongebirge mit seinen 1.758 Wohneinheiten zählt das zu den größten durchgängig begehbaren Wohnkomplexen Europas und erreicht eine Höhe von 46 Metern.
Ebenso hoch ist der Turm der 1936 eingeweihten evangelischen Lindenkirche, die nur zwei Parallelstraßen weiter zu finden ist. Aufgrund ihres schlichten Baustils und der zweckmäßigen Einrichtung kann man sie architektonisch der Neuen Sachlichkeit zuordnen, ganz im Gegensatz zur katholischen Marienkirche am östlichen Ortsteilrand, die 1914 fertiggestellt wurde. Der neoromanische Klinkerbau ist mit seinem 60 Meter hohen Turm das höchste Gebäude des Rheingauviertels und sicher auch eines der bemerkenswertesten.
Wenn man über die Architektur im Kiez spricht, sollten die drei U-Bahnhöfe, die ihn in voller Länge unterqueren, nicht unerwähnt bleiben. Sie zählen, aufgrund ihrer aufwendigen Gestaltung zu den schönsten Berlins. Wilmersdorf, bis 1920 eigenständige Stadt, wollte mit den steinernen, statt – wie üblich – stählernen Stützpfeilern am Heidelberger, Rüdesheimer und Breitenbachplatz seinerzeit dem eigenen Wohlstand Ausdruck verleihen. Besonders eindrucksvoll ist der U-Bahnhof am Heidelberger Platz: Mit seiner gewölbeartigen Decke, den schweren hängenden Lampen, die ihr stetig schummerig-schläfrigmachendes Licht abgeben, macht er einen erhabenen, fast kathedralenartigen Eindruck.
Doch gibt es neben den zahlreichen Architekturdenkmälern sonst noch Kunst und Kultur im Kiez? Das Angebot im Rheingauviertel ist überschaubar. Zum einen gibt es das Kindertheater Jaro, das 1988 als mobiles Theater startete und mittlerweile im Wohnkomplex an der Schlangenbadener Straße 30 zu Besuchen einlädt. Nicht nur zu Theateraufführungen, sondern auch zu Theater-, Tanz- und Musikkursen. Ein umfangreiches Kursprogramm, ebenfalls vorrangig für Jugendliche und Kinder, bietet auch die Theaterschule Goldoni am nördlichen Ende der Laubacher Straße. Viele der angebotenen Kurse, die zu einem beachtlichen Teil von film- und fernsehbekannten Schauspielerinnen und Schauspielern gegeben werden, schließen mit öffentlichen Präsentationen ab.
Ebenfalls in der Laubacher Straße findet man in einem rotverklinkerten Eckhaus zur Deidesheimer Straße seit Kurzem das Schaudepot der privaten Hegenbarth-Sammlung. Die Arbeiten des Malers, Grafikers und Illustrators Josef Hegenbarth (1884–1962) bilden den Sammlungsschwerpunkt, sie umfasst darüber hinaus auch andere Werke der klassischen Moderne sowie zeitgenössische Kunst. Nach Voranmeldung können originale Blätter der Sammlung besichtigt werden, regelmäßig sind Einzelwerke ausgestellt und Vorträge ergänzen das Programm.
Wer Abendunterhaltung sucht, muss in die benachbarten Kieze ausweichen. Fündig wird man fußläufig in Friedenau und Steglitz, doch darüber wird zu gegebener Zeit berichtet werden. ■
Text & Fotos: Marc Lippuner
Marc Lippuner hat Germanistik, Geschichte sowie Kultur- und Medienmanagement in Berlin und Wien studiert. Nach Jahren als Theatermacher leitet er seit 2017 die WABE im Herzen von Prenzlauer Berg. Nebenbei frönt er mit den von ihm gegründeten Kulturfritzen, einem kleinen Projektbüro für kulturelle Angelegenheiten, seiner Berlin-Liebe.
Der Elsengold-Verlag brachte im vergangenen Jahr seinen Spaziergangsführer durch den Großbezirk Pankow heraus. In Kürze erscheinen im selben Verlag seine Wandkalender zur Berliner und zur deutschen Geschichte für das Jahr
2021.
Seit Januar diesen Jahres hat Marc Lippuner mit “Die Kulturfritzen – eine Stunde Berlinkultur” bei ALEX Berlin (UKW 91null) eine monatliche Radiosendung, seit Mai gibt es auch einen Kulturfritzen-Podcast.
Für unser mein/4-Magazin begibt sich Marc Lippuner regelmäßig auf kulturelle Entdeckungsreisen durch die Berliner Kieze, darüber hinaus empfiehlt er eine Handvoll Kulturevents, die man in den kommenden Wochen seiner Meinung nach auf keinen Fall verpassen sollte…